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Hans Sperber
trächtigen dürfte, ist die, daß sich wohl die meisten Leser zunächst
gegen eine Theorie sträuben dürften, die mit der scheinbaren Un-
geheuerlichkeit rechnet, daß ursprünglich alle Worte, oder wenigstens
die Mehrzahl — daß z. B. die Kindersprache und die Schallnachahmung
auch ihren Anteil gestellt haben können, will ich vorläufig nicht bestreiten
— gewissermaßen nur den einen Begriff des Geschlechtsaktes ausge-
drückt hätten. Wir sind einerseits allzusehr in unseren modernen
Anstandsregeln befangen, als daß wir uns ohne Anstrengung in
einen Zustand versetzen könnten, wo man sexuell betonte Worte
mit einer so völligen Unbefangenheit aussprach, wie es meine
Theorie voraussetzt. Und anderseits kommt es uns auf den ersten
Blick unglaubhaft vor, daß ein einziger Begriff so ungeheuer diffe-
rentiationsfähig hätte sein können, daß sich daraus die Unzahl der
Bedeutungen ergeben konnte, über die eine moderne Sprache verfügt.
Beide Schwierigkeiten zerfallen bei näherem Zusehen in nichts.
Die Zeit, wo es unsere geflissentlidie Verhüllung des Sexuellen
noch nicht gab, liegt nicht gar so weit hinter uns, wie wir gerne
glauben möditen. Wir brauchen bloß zu unseren slavischen Nachbarn
zu gehen, um unsere Scheu vor sexuellen Ausdrücken auf ein
Minimum reduziert zu finden*. Lind dass unsere Anstandsbegriffe,
nach denen alles, was die sexuelle Sphäre berührt, aus den Gesprächen
der guten Gesellschaft verbannt ist, nicht auf die Halbtiere ange^
wendet werden dürfen, die die ersten Sprachwurzeln schufen, das
ist ja eigentlich selbstverständlich.
Da man aber noch immer hie und da auf die Ansicht stößt,
daß das Schamgefühl dem Menschen angeboren sei und sich also
instinktiv auch schon auf den allerniedrigsten Kulturstufen äußern
müsse, so ist es vielleicht nicht ganz unnötig, wenn ich die folgende
Stelle aus Karls v. d. Steinen »Unter den Naturvölkern ZentraL
Brasiliens« <S. 65) hiehersetze. »Beim Vokabelfragen,« erzählt der
Forscher, »bildeten die Körperteile einen wichtigen und leicht zu
behandelnden Stoff. Die Bakairi fanden es sehr komisch, daß ich
alles wissen wollte, waren anderseits aber sehr stolz, daß ihre
Sprache so reich war und der Bakai'ri für jeden Xe*l ein Wort hatte.
Sehr vergnügt wurden sie bei meinen Fragen da und ließen es an
prompter Auskunft nicht fehlen, wo sie sich nach unseren Begriffen
hätten schämen und womöglich lateinisch oder in Ausdiüdcen der
Kindersprache hätten antworten sollen. Rücksichtsvoll — denn ich
natürlich schaute in diesem Moment durch meine Kulturbrille und
sah, daß sie nadct waren — hatte ich einen Augenblick abgewartet,
als die Frauen aus der Hütte herausgegangen waren: ich wurde
damit überrascht, daß die fällige Antwort plötzlich draußenher von
einer sehr belustigten Mäddienstimme kam. Meine Vorsicht hatte
keinen Sinn gehabt ... Es ist wahr, das bei uns anstößig er-
scheinende Thema bereitete den Bakairi, Männern und Frauen, em>
* Vgl. z. B. F. S. Krauß, Anthropophyteia III, 33.
Hans Sperber
trächtigen dürfte, ist die, daß sich wohl die meisten Leser zunächst
gegen eine Theorie sträuben dürften, die mit der scheinbaren Un-
geheuerlichkeit rechnet, daß ursprünglich alle Worte, oder wenigstens
die Mehrzahl — daß z. B. die Kindersprache und die Schallnachahmung
auch ihren Anteil gestellt haben können, will ich vorläufig nicht bestreiten
— gewissermaßen nur den einen Begriff des Geschlechtsaktes ausge-
drückt hätten. Wir sind einerseits allzusehr in unseren modernen
Anstandsregeln befangen, als daß wir uns ohne Anstrengung in
einen Zustand versetzen könnten, wo man sexuell betonte Worte
mit einer so völligen Unbefangenheit aussprach, wie es meine
Theorie voraussetzt. Und anderseits kommt es uns auf den ersten
Blick unglaubhaft vor, daß ein einziger Begriff so ungeheuer diffe-
rentiationsfähig hätte sein können, daß sich daraus die Unzahl der
Bedeutungen ergeben konnte, über die eine moderne Sprache verfügt.
Beide Schwierigkeiten zerfallen bei näherem Zusehen in nichts.
Die Zeit, wo es unsere geflissentlidie Verhüllung des Sexuellen
noch nicht gab, liegt nicht gar so weit hinter uns, wie wir gerne
glauben möditen. Wir brauchen bloß zu unseren slavischen Nachbarn
zu gehen, um unsere Scheu vor sexuellen Ausdrücken auf ein
Minimum reduziert zu finden*. Lind dass unsere Anstandsbegriffe,
nach denen alles, was die sexuelle Sphäre berührt, aus den Gesprächen
der guten Gesellschaft verbannt ist, nicht auf die Halbtiere ange^
wendet werden dürfen, die die ersten Sprachwurzeln schufen, das
ist ja eigentlich selbstverständlich.
Da man aber noch immer hie und da auf die Ansicht stößt,
daß das Schamgefühl dem Menschen angeboren sei und sich also
instinktiv auch schon auf den allerniedrigsten Kulturstufen äußern
müsse, so ist es vielleicht nicht ganz unnötig, wenn ich die folgende
Stelle aus Karls v. d. Steinen »Unter den Naturvölkern ZentraL
Brasiliens« <S. 65) hiehersetze. »Beim Vokabelfragen,« erzählt der
Forscher, »bildeten die Körperteile einen wichtigen und leicht zu
behandelnden Stoff. Die Bakairi fanden es sehr komisch, daß ich
alles wissen wollte, waren anderseits aber sehr stolz, daß ihre
Sprache so reich war und der Bakai'ri für jeden Xe*l ein Wort hatte.
Sehr vergnügt wurden sie bei meinen Fragen da und ließen es an
prompter Auskunft nicht fehlen, wo sie sich nach unseren Begriffen
hätten schämen und womöglich lateinisch oder in Ausdiüdcen der
Kindersprache hätten antworten sollen. Rücksichtsvoll — denn ich
natürlich schaute in diesem Moment durch meine Kulturbrille und
sah, daß sie nadct waren — hatte ich einen Augenblick abgewartet,
als die Frauen aus der Hütte herausgegangen waren: ich wurde
damit überrascht, daß die fällige Antwort plötzlich draußenher von
einer sehr belustigten Mäddienstimme kam. Meine Vorsicht hatte
keinen Sinn gehabt ... Es ist wahr, das bei uns anstößig er-
scheinende Thema bereitete den Bakairi, Männern und Frauen, em>
* Vgl. z. B. F. S. Krauß, Anthropophyteia III, 33.