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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

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II.4
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Freud, Sigmund: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0412
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Die infantile Wiederkehr des Totemismus

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nicht beschwichtigt ist, drückt sich in den Mythen aus, die diesen
jugendlichen Geliebten der Muttergöttinnen ein kurzes Leben und
eine Bestrafung durch Entmannung oder durdi den Zorn des Vater*
gottes in Tierform bescheiden. Adonis wird durdi den Eber getötet,
das heilige Tier der Aphrodite,- Attis, der Geliebte der Kybele,
stirbt an Entmannung1. Die Beweinung und die Freude über die
Auferstehung dieser Götter ist in das Rituale einer anderen Sohnes*
gottheit übergegangen, welche zu dauernderem Erfolge bestimmt war.
Als das Christentum seinen Einzug in die antike Welt be-
gann, traf es auf die Konkurrenz der Mithrasreligion, und es war
für eine Weile zweifelhaft, welcher Gottheit der Sieg zufallen würde.
Die lichtumflossene Gestalt des persischen Götterjünglings ist
doch unserem Verständnis dunkel geblieben. Vielleicht darf man aus
den Darstellungen der Stiertötungen durch Mithras schließen, daß
er jenen Sohn vorstellte, der die Opferung des Vaters allein voll*
zog und somit die Brüder von der sie drückenden Mitschuld an der
Tat erlöste. Es gab einen anderen Weg zur Beschwichtigung dieses
Schuldbewußtseins und diesen beschritt erst Christus. Er ging hin
und opferte sein eigenes Leben und dadurch erlöste er die Brüder*
schar von der Erbsünde.
Die Lehre von der Erbsünde ist orphischer Herkunft/ sie
wurde in den Mysterien erhalten und drang von da aus in die
Philosophenschulen des griechischen Altertums ein2. Die Menschen
waren die Nachkommen von Titanen, welche den jungen Dionysos*
Zagreus getötet und zerstückelt hatten,- die Last dieses Verbrechens
drückte auf sie. In einem Fragment von Anaximander wird ge*
sagt, daß die Einheit der Welt durch ein urzeitliches Verbrechen
zerstört worden sei, und daß alles, was daraus hervorgegangen, die
Strafe dafür weiter tragen muß.3 Erinnert die Tat der Titanen
durch die Züge der Zusammenrottung, der Tötung und Zerreißung
deutlich genug an das von St. Nilus beschriebene Totemopfer — wie
übrigens viele andere Mythen des Altertums, z. B. der Tod des

1 Die Kastrationsangst spielt eine außerordentlich große Rolle in der Störung
des Verhältnisses zum Vater hei unseren jugendlichen Neurotikern. Aus der schönen
Beobachtung von Ferenczi haben wir ersehen, wie der Knabe seinen Totem in
dem Tier erkennt, welches nach seinem kleinen Gliede schnappt. Wenn unsere
Kinder von der rituellen Beschneidung erfahren, stellen sie dieselbe der Kastration
gleich. Die völkerpsychologische Parallele zu diesem Verhalten der Kinder ist meines
Wissens noch nicht ausgeführt worden. Die in der Urzeit und bei primitiven
Völkern so häufige Beschneidung gehört dem Zeitpunkt der Männerweihe an, wo
sie ihre Bedeutung finden muß, und ist erst sekundär in frühere Lebenszeiten zurück*
geschoben worden. Es ist überaus interessant, daß die Beschneidung bei den Pri*
mitiven mit Haarabschneiden und Zahnausschlagen kombiniert oder durch sie er*
setzt ist, und daß unsere Kinder, die von diesem Sachverhalt nichts wissen können,
in ihren Angstreaktionen diese beiden Operationen wirklich wie Äquivalente der
Kastration behandeln.
2 Rein ach, Cultes, Mythes et Religions, II., p. 75 ff.
3 »Une sorte de peche proethnique« 1. c., p. 76.

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