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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 2.1913

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II.5
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Pfister, Oskar: Die Entstehung der künstlerischen Inspiration
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https://doi.org/10.11588/diglit.42095#0496
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Die Entstehung der künstlerischen Inspiration

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Die Kntstehung der künstlerischen Inspiration.
Von Dr. OSKAR PFISTER, Pfarrer in Zürich.
Die künstlerische Intuition wurde wie das Schauen des relF
giösen Propheten meistens als eine Art Hellsehen betrachtet, das der
Wissenschaft ehrfurchtsvolles Schweigen gebietet. Heute darf man
den nicht mehr der Verwegenheit zeihen, der als Psychologe in
die Geistes Werkstatt des Künstlers Einlaß begehrt. Freud und
seine Nachfolger Rank, Stekel, Sadger, Jung u. a. haben mit
Erfolg das Werden des dichterischen Schaffens erforscht, Graf be-
lauschte als Erster die poetischen und musikalischen Offenbarungen
eines genialen Tonmeisters. Freud drang in den jungfräulichen
Boden der bildenden Kunst ein, indem er einige Werke Leonardo
da Vincis mit unvergleichlichem Scharfsinn auf ihre letzten seeli-
schen Wurzeln zurückführte. Dagegen fehlte bisher die direkte
Analyse der malerischen Produktion am lebenden Künstler1.
Diese Lüdce möchte die vorliegende Untersuchung ausfüllen.
Von pädagogischer Absicht geleitet, sah ich mich eines Tages zu
einer ästhetischen Studie genötigt, ohne welche der erzieherische
Zweck schwer zu erreichen gewesen wäre. Die Einmischung in
kunstwissenschaftliches Gebiet dürfte aus diesem Grund dem Laien
verziehen werden.
Franz J. ist ein intelligenter 181Vjähriger Jüngling, mit dem
ich mich öfters über religionsphilosophische und ethische Gegenstände
unterhielt. Aus pietistischen Kreisen hervorgegangen, hatte er sich
zu freieren Anschauungen durchgerungen. Mir begegnete er seit
dem Anfang unserer zwei Jahre bestehenden Bekanntschaft mit zu-
traulicher Offenheit, so daß ich auf ein günstiges Übertragungsver^
hältnis schloß. Vor einigen Monaten änderte sich sein Betragen gegen
mich. Seine von mir bisher gern gehörte Kritik nahm einen nör-
gelnden Ton an und mündete in höhnische Opposition, grundsätz^
liehen Negativismus aus. Als der Jüngling schließlich alle ethischen
Wertungen für Unsinn erklärte und beinahe im selben Atemzug
sich über den Mangel an sittlichem Ernst bei seinen Kameraden
beschwerte, schlug ich ihm analytische Seelsorge vor, die nach kurzem
Widerstreben angenommen wurde. Man möchte allerdings lieber,
der Analysand erschiene aus freien Stücken,- allein manchmal ist
eine direkte Aufforderung nicht zu umgehen.
Bei seinem ersten Erscheinen bekannte Franz, daß ihm das
Leben im höchsten Grade verleidet sei. Mit den Eltern habe er
1 Sachs gab wertvolle Winke über die Werke Kubins. Imago, I. Bd.,
p. 197 ff. Bertschinger analysierte »illustrierte Halluzinationen« ohne künst-
lerische Abzwedcung, <Jahrb. f. psychoan. u. psychopath. Forschungen, III. Bd.,
p. 69 bis 100, Vorstehende Arbeit wurde im September 1912 entworfen. Ein
einzelnes Gemälde eines Schizophrenen analysierte H. Rorschach <Zbl. f. Psychoan.,
III. Bd., p. 270 bis 272), doch handelt es sich nur um eine wenn auch sehr
charakteristische Variante des typischen Abendmahlsbildes.)
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