Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

DOI Heft:
VIII. 1
DOI Artikel:
Pfister, Oskar Robert: Die primären Gefühle als Bedingungen der höchsten Geistesfunktion
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0058
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
48

Dr. O. Pfister

Mein auf wurde ich in puritanischem Sinne mißhandelt, aüe natürlichen
Regungen erklärte die Mutter für sündhaft, alle Freuden wurden
durch Moralbrühe vergällt. Wir Kinder lebten in enger, dumpfer
Luft und konnten unser ReAt auf freie Bewegung nie ausüben.
Besonders wurde alles, was mit der Geschlechtlichkeit zusammenhing,
in Verruf gebracht und als schändliches Noli me tangere behandelt.
Als ich eine kleine Jugendliebe aufbrachte, wurde sie mir durch die
Mutter in brutaler Weise ausgetrieben. Damals begann der Intellekt
tualismus stärker hervorzutreten und das Gefühl abzustumpfen.c
Die Deutung liegt auf der Hand: Der Zustand des Nirwana
ist zum Bedürfnis geworden, aus dem von der Mutter seiner Primär"
erotik beraubten Kinde ist ein Mann geworden, dessen Unbewußtes
paranoisch sich selbst im Wunsche aufbläst, ein Riese zu sein, ein
Mann, der entmannt wird, indem alle heißen Gefühle, die mit der
Liebe Zusammenhängen, ihm ertötet werden.
Daß ein solcher Mensch im Egoismus keinen Ersatz hndet,
wird uns nicht wundern. Im Verkehr mit der Umgebung war er oft
gereizt, wo er es sich leisten durfte, aber mehr und mehr nähert er
sich dem Automaten, bis ihm die Analyse half, die weitgehende
Verdrängung der Sexualität rüdegängig zu machen und eine normale
Einstellung zum Leben zu gewinnen. Er gewann die innere Freiheit
zur Liebe, verheiratete sich und wurde ein glücklicher, arbeitsfroher
Mensch.
2. Waren in diesem Falle gemäß den Resten unverdrängter
Sexualität noch dann und wann erhebliche Spuren vonLiebesahnung
vorhanden \ so verfällt eine andere Analysandin beinahe dem Zu-
stand des Nirwana, nur daß Lebensüberdruß und Lebenssehnsucht
sich nicht erdrosseln lassen wollen. Ein 28jähriges Mädchen schreibt
mir einen verzweifelten Brief, laut dem es sich seit etwa zwei Jahren
im Zustand einer lebendigen Leiche befinde. Alle Interessen und
Freuden seien gesAwunden, das größte UnglüA lasse sie kalt, nichts
als namenloser Ekel vor dem Leben sei übriggeblieben. Auch gute
Lektüre hinterlasse nur namenlose Traurigkeit. Alle Versuche, ein
Lebensziel zu Enden, hatten fehlgesAlagen, besonders auch die
Anthroposophie, die sie, wie sie mündlich berichtete, mit dem Ver"
stand anerkenne, ohne aber durA sie zu irgend einem tieferen Er-
i Deutlich treten sie hervor in einer von diesem Analysanden improvisierten
Tagphantasie, die ich wiedergab und analysierte in meinem Büchlein ^Wahrheit
und Schönheit in der Psychoanalyse*, Ras&er, Zürich 1918, S. 105 f.
 
Annotationen