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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

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VIII. 2
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Kelsen, Hans: Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie: mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse
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https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0150
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Dr. Hans Kelsen

Re&te transzendente, meta-rechtliche Staat, der in Wahrheit nichts
anderes ist als die hypostasierte Personifikation, die realgesetzte
Einheit des Rechts, entspricht haargenau dem der Natur trans^
zendenten, supranaturaien Gott, der nidits anderes ist als die
grandios-anthropomorphe Personifikation der Einheit dieser Natur.
Ebenso wie die Theologie diesen von ihr selbst geschaffenen Dua-
lismus schließlich zu überwinden sucht, indem sie das — nach
ihren eigenen Voraussetzungen unlösbare — Problem der Ein-
heitsbeziehung des metaphysischen Gottes auf die Natur, der
außergöttlidien Natur auf Gott stellt, so ist auch die Staats- und
Reditstheorie gezwungen, den meta-reditlidien Staat auf das Recht
und das außerstaatliche Recht auf den Staat zu beziehen. Die
Theologie — nicht nur die christliche — versudit die Lösung
ihres Problems auf mystischem Wege: durch die Menschwerdung
Gottes wird der überweltliche Gott zur Welt, beziehungsweise
zu deren Repräsentanten zum Menschen. Die Lösung, die die
Staats- und Rechtslehre versucht, ist die gleiche. Es ist die Lehre
von der sogenannten SelbstverpHichtung oder Selbstbeschränkung
des Staates, derzufolge der überrechtlidie Staat, zur Person ge-
worden, sich selbst freiwillig seiner eigenen, d. h. von ihm selbst
gesdiaffenen Rechtsordnung unterwirft, und aus einer außerrecht^
liehen Macht zu einem Rechtswesen, zum Recht schlechthin
wird. Man hat dieser Theorie, weil sie sich zu den selbst
geschaffenen Voraussetzungen der Staats^ und Rechtslehre in
Widerspruch setzt und das Unbegreifliche, daß zwei verschiedene
Wesen eins sind, begreiflich machen wili, von jeher vorgeworfen,
daß sie nicht eines gewissen x-mystischenc Charakters entbehre.
Aber man hat bisher noch nicht bemerkt, daß das Mysterium
der Menschwerdung Gottes von der Theologie geradezu unter
dem Gesichtspunkt der x-Selbstbeschränkungc Gottes vorgetragen
wird. Indes geht die Übereinstimmung zwischen Theologie und
Staatslehre noch viel weiter: Dem Problem der Theodizee ent-
spricht genau das Problem des sogenannten s-StaatsMInrechtsc.
Über das Verhältnis von Gott und Individuum — Universal^
seele und Einzelseele — hat die religiöse Spekulation speziell
der Mystiker im Grunde genommen nichts anderes beigebracht
als die politische Theorie des Universalismus und Individualismus
über das Verhältnis Staat (Gemeinschaft) und Individuum. Ja
sogar die theologische Lehre von den Wundern findet in der
 
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