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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

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VIII. 2
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Kelsen, Hans: Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie: mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse
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https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0149

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Der Begriff des Staates und die Soziaipsydioiogie

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ebenso eine verdoppelnde, Scheinprobleme erzeugende »Substanz«
ist, wie die »Seele« in der Psychologie, die aKraft« in der Physik,
dann wird es ebenso eine Staatslehre ohne Staat geben, wie es schon
heute eine Psychologie ohne eine »Seele« und ohne all die Schein^
probletne gibt, mit denen sich die rationale Psychologie geplagt hat
(Unsterblichkeit z B. ein spezifisches Substanz=Prob!em) und schon
heute eine Physik ohne »Kräfte« gibt. Psychologisch allerdings
— und nur psychologisch — läßt sich dieser Hang zur Personifi-
kation und Hypostasierung, diese Tendenz zur Substanzialisierung,
begreifen. Und gerade von diesem Standpunkt erscheint es nur als
eine graduelle Differenz, ob die Naturwissensdiaft hinter den
Erscheinungen »Kräfte« vermutet, wo sich die Primitiven noch
Götter vorstellen. Und darum ist es im Prinzipe dasselbe, wenn
dem primitiv totemistisch orientierten Denken die soziale Einheit,
die Verbindung einer Vielheit von Individuen zur Einheit nur in
der sicht- und greifbaren Substanz des gemeinsam verzehrten
Opfer- (Totem-) Tieres zum Ausdrude kommen kann, und wenn
die moderne Staats^ und Rechtstheorie sich die abstrakte soziale
Ordnung, dieses System von Rechtst und Zwangsnormen d. h.
aber die Einheit der maßgebenden sozialen Gemeinschaft (und
nur in dieser Ordnung besteht die Gemeinschaft) nur als ein
substanzartiges Ding, als eine areale« durchaus anthropomorph
gebildete »Person« veranschaulichen muß, ohne sidi des eigene
liehen Charakters dieser Vorstellung als eines bloßen Denkbehelfs
bewußt zu werden,- zumal wenn man bemerkt, wie stark die
Tendenz ist, diese »Person« zu einem womöglich sicht- und
greifbaren Etwas, zu einem überbiologischen Lebewesen zu
fingieren. Ist in diesem Punkte die moderne Staatstheorie primitiv,
so ist eben das totemistische System die Staatstheorie der
Primitiven.
Als ein Substanzbegriff wie »Kraft« und »Seele«, als eine
personifikative Fiktion tritt der Staatsbegriff in eine Parallele zum
Begriff Gottes. Die Übereinstimmung in der logischen Struktur
beider Begriffe ist tatsächlich verblüffend, zumal wenn man die
weitgehende Analogie betrachtet, die zwis&en den Problem**
Stellungen wie Problemlösungen der Theologie und der Staats^
lehre besteht. Diese Analogie ist mir besonders an den Vor-
stellungen aufgefallen, die in der neueren Literatur von dem Ver^
hältnis zwischen Staat und Recht gegeben werden. Der dem
 
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