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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

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VIII. 3
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Špilʹrejn, Sabina Nikolaevna: Die Entstehung der kindlichen Worte Papa und Mama: einige Betrachtungen über verschiedene Studien in der Sprachentwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0356
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346

Dr. S. Spieirein

uns, daß die Sprache nur in Gesellschaft gegeben ist, so findet sidi
also der Mensch als ein Selbst und ein IA nur, indem er zugleich
andere Selbst und andere Ich neben sich hat.<K
Man vergleidie bloß das in der Rege! scheue, mißtrauische,
tüdcische Wesen der Taubstummen mit dem Charakter von Blinden,
um die hohe soziale Bedeutung der Wortsprache anderen Sprachen
gegenüber zu würdigen.
Zu sozialen Zwecken am besten geeignet, drängte die Wort"
spraAe bald alle übrigen in den Hintergrund, indem sie zu Hilfst
sprachen, unterbewußten Sprachen herabsanken, respektive zu
Kunstsprachen umgestaltet wurden. Genetisch jedodi ist die Wort-
spräche lange nicht die erste, weder beim Menschen noch in der
Tierreihe. Die Melodiesprache, Musik, in ihrer primitivsten Form
der Rhythmik und Toninklination geht der Wortsprache zuerst
weit voraus: lange bevor die ersten Zeichen der Wortsprache auf"
treten, ist der Sdirei ein bewährtes Verständigungsmittel zwischen
Kind und Pßegeperson. Aufmerksame Mütter und Pflegerinnen
wissen es sehr gut, daß ihr Sdiützling auf ganz verschiedene,
bestimmte Art sAreit, fe nachdem er naß ist, Hunger hat, einen
SAmerz empfindet oder einfaA die Nähe der Pflegeperson herbei-
wünsAt. Der Säugling drüdct zuerst — mit oder ohne AbsiAt —
seinen Zustand oder Begehrung durA versAiedene Rhythmik,
Höhe, Tonfall, Intensität des SAreiens aus, also in einer primitiven
melodisAcn SpraAe. Er versteht auA zuerst den Tonfall und viel
später das Wort. — Audi Tieren ist an unserer SpraAe am meisten
das melodisAe Moment zugängliA.
NaA diesen Überlegungen wird die hohe Popularität der
Musik begreifliA, beiläufig bemerkt gilt diese Popularität niAt der
Musik als Kunstwerk, das gar niAt so leiAt zu verstehen ist,
sondern der Musik als SpraAe. Die Erzeugnisse der plastisAen
Kunst waren ursprüngliA Darstellungen, welAe vor allem magi-
sAen Zwe&en dienten*. Als SpraAe, außer als autistisAe, d. h.
für stA selbst bestimmte oder als x.magisdie<x3 ist die plastisAe
Äußerung viel sAwerfälliger und sie hat siA daher in diesem
Sinne viel weniger bewährt. Die Produktionen der plastisAen
* Siehe Freud: Totem und Tabu.
2 Wir kommen ba!d darauf zu sprechen, daß die Sprache ursprüngiieh
für sich seihst bestimmt ist und sich erst nachträgiich zu einer soziaien, für die
Mitmenschen bestimmten Sprache entwideeit.
 
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