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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

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VIII. 3
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Špilʹrejn, Sabina Nikolaevna: Die Entstehung der kindlichen Worte Papa und Mama: einige Betrachtungen über verschiedene Studien in der Sprachentwicklung
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https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0357

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Die Entstehung der icindtiAen Worte Papa und Mama 347

Künste können für sich im Stillen genossen werden. Die Musik
hingegen, in primitivster Form der Gesang, wenn auch a!s Selbst-
genuß beginnend, ist bald ein Mitteiiungsmitte! par excellence
geworden, ein Loderuf, ein Gebet, eine Kiage an Gott oder Mit-
menshen geriditet und deren Teilnahme verlangend. Mit der Aus-
bildung der Wortsprache treten namentlich die beiden innig ver-
wandten akustischen Sprachen bewußt vereinigt auf, so im Gebet,
so in den Volksliedern, wie später in Kunstwerken (Choral,
Oper u. ä.). Die Vereinigung von Wort und Melodie in der
Volkspoesie zeigt uns aber auch, daß es zwei selbständige Sprachen
sind, jede mit ihrem eigenen Charakter, jede die andere teilweise
ausschließend: in den meisten Fällen wird entweder die Melodie
oder der Text verkümmert. Die Melodie ist das Allgemeine, die
Wortsprache — das mehr Konkrete, der Gegenwart Angepaßte.
Bei alten Gebeten paßt sich die Melodie dem Text an und wird
in ältesten Gebeten fast auf reine Rhythmik reduziert. Bei Volks-
liedern fällt mit der stärkeren Betonung und Differenzierung der
Melodie der oft blöde, unförmige Text geradezu auf. Wie es
große Dichter gibt, die musikalisch primitiv geblieben sind und
nicht einmal eine Melodie nahsingen können, so gibt es anderseits
Sdtöpfer in Musik, unfähig, einen Vers zu einer Melodie zu dichten.
Wahrscheinlich läßt sich hier auch ein für die Charakterologie eines
Volkes typischer Unterschied nahweisen.
Ih habe bei meinem Kinde sehr darauf geahtet, wann und
in welcher Form es die ersten musikalischen Produktionen liefert.
Trotzdem ist es mir niht gelungen, die erste gleich zu notieren.
Es folgten aber bald mehrere, dem Wesen nah analoge: es
waren stets Versuhe der Melodisierung einer Rede,- im Sinne
unseres tonalen Gefühles war es noh keine rihtige Melodie, viel-
mehr ein rhythmisierendes Langziehen von Silben, sogenannten
9Versen ohne Reime: vergleichbar, eine Melodie, wie sie Kinder
9ohnc Gehöre: singen. Der Text eines solcher s>Lieder<s lautet:
9 Von der Kiiissen Nadel pidet,
Von der Naaadel picke die*.
Wir amüsierten uns oft mit dem Töhterhen, allerlei Volks-
lieder nadreinander zu singen, x>wie es gerade einfällt-x. Dabei he!
es mir auf, daß idi das nähste Lied nah der Ähnlichkeit des

t Die Nadet vom Kissen pi&t (stiAt). An der Nadef apideste du diA,
 
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