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Imbert, Barthélemy; Gutsch, Christian Friedrich [Bearb.]
Morgenzeitvertreib, oder kleine Erzählungen ([1. Bändchen]) — Breslau und Leipzig: bey Christian Friedrich Gutsch, 1784 [VD18 90795113]

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https://doi.org/10.11588/diglit.50528#0136
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unten an dem Baume, auf welchem er sich nieder-
zulassen pflegte. Da sie von dem geflügelten Do-
then nichts sähe und hörte, besorgte sie, sie möchte
den Baum verwechselt haben. Aber es war der
nchmliche Ulmbanm, auf welchem er sich aufhielt,
um sich den verliebten Brief, den er im Schna-
bel trug abnehmen zu lassen. Die bekümmerte
Azeline rief ihn durch ihre Wünsche, durch ihre
Seufzer herzu: aber nichts ließ sich sehen. Ach?
wenn Elcnor aus Nachläßigkeit nicht geschrieben,
wenn die Taube sich unterwegens aufgehaltcn hat-
te! Aber Elenor ist so accurat, und die Taube so
treu! Azeline, die kaum athmen konnte, stieg auf
eine Anhöhe; sie konnte gut in die Weite sehen;
der Himmel war hell, und doch zeigte sich der ge-
liebte Vogel nicht. Azeline ganz äusser sich stieg in
die Ebnehinab, lief noch einmahl mit einem Schim-
mer von Hofnung aufden Baum zu, kam bcy ihm
an, sähe nichts, und fiel gleichsam vor Müdigkeit
auf den Rasen hin.
In dieser grausamen Gemuthsunruhe überfiel
sie die Nacht, eine Nacht die noch schrecklicher war
als der vorhergehende Tag. Den folgenden Tag
graute die Morgenröthe noch nicht am Horizont,
als Azeline schon beym Baume war. Wie wurde
dieser unglücklichen Verliebten, da sie den Tag aber-
mals zu Ende gehen sähe, ohne den Vogel wahr-
genommen zu haben! aber was sie den Tag vorher
ausgestauden hatte, das stund Elenor an diesem
Tage aus-; denn er hatte eine Antwort erwartet,
die
 
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