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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 28.1917

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Jaumann, Anton: Freie Raumkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.10024#0349
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INNEN-DEKORATION 327

der letzten Jahrzehnte gründet, sich zu kompromittieren.

— Unsere gegenwärtige Raumkunst steht durchaus unter
dem Zeichen der Konvention. Manche haben das bedauert,
aber nur aus dem Grunde, weil sie die spielerischen Neue-
rungen der Zeit um 1900 fortgesetzt wünschten. Sie
sind von dem Worte »Modern« befangen, und verstehen
darunter im Grunde nichts anderes als eine Änderung
von Äußerlichkeiten. Jene Zeit zeigte ihnen die »moderne
Form«, die sie jetzt, wo auch für die Äußerlichkeiten
des Umrisses, des Schmuckes, der Farbe wieder die
Konvention früherer Stile herrscht, vermissen. Sie über-
sehen, daß ja im wesentlichen alles beim alten geblieben
ist; unsere Straßen, Häuser, Wohnungen, Möbel sind um
1900 nicht auf einmal vollständig andere geworden, sie
haben unter der modernen Maske ihren jahrhundertealten
Typus treu bewahrt. Da ist es denn gleich, wenn sie auch
in der äußeren Formulierung ihre Herkunft bekennen. —
So denkt meine Sehnsucht,
weil sie ein wirklich, von
Grund auf Neues gestaltet
wünscht. Vielleicht ist sie
ungerecht. Alle Neuerer sind
ungerecht, müssen dieRechte
des Bestehenden verletzen.

— Sie eifert weiter, meine
ungeduldige Sehnsucht: Was
die Reformatoren der Woh-
nungskunst geschaffen haben
und was unsere Architekten
heute noch in Raumkunst
schaffen, das war und ist doch
alles nur Kompromiß. Sie
wollten als Künstler künst-
lerische Räume und Kombi-
nationen körperlicher Formen
hinstellen, ohne aber mit den
Räumen und Formen nach
rein künstlerischer Absicht
schalten zu dürfen. Es ist wie
wenn einer eine Symphonie
aufführen wollte mit einem
Orchester, wo die wichtig-
sten Instrumente fehlen und
wo die vorhandenen Instru-
mente beschädigt sind, so

daß sie nur wenige Töne von sich geben. Der Musiker
würde in solchem Falle verzweifeln und verzichten.
Der Architekt tat es leider nicht, er hat gemeint, mit
oberflächlichen Figuren, mit formalen Varianten doch
ein Kunstwerk, eine neue Kunst erzwingen zu können.
Solche Neuerungsversuche werden immer etwas ge-
waltsames an sich haben. Sie nehmen Haus und Möbel,
wie sie sind, und pressen sie in eine andere Form. Da-
gegen wehrt sich der gesunde Menschenverstand, der
Wächter des Herkommens, und hier nicht zu Unrecht.
Aber auch der Künstler kommt hierbei nicht auf seine
Rechnung. Das Auge soll allein urteilen, ob ein Ding
schön ist oder nicht. Wie aber kann ein Gegenstand,
ein Raum, ein Bau schön erscheinen, wenn Grundform
und Auffassung, ja auch die einzelnen Maße durch Zweck
und Herkommen gegeben sind, wenn der Künstler nicht
die Freiheit räumlicher und körperlicher Gestaltung be-
sitzt, sondern höchstens über den ungünstigen Eindruck
der Grundform durch mühevolle Versuche in Umriß und

GRUNDRISS ZUM LANDHAUS (S. 324)

Schmuck hinwegtäuschen kann? Ungünstig im künst-
lerischen Sinne ist die typische Grundgestalt von fast
allen unsern Möbeln. Wenn man die Gebilde der Natur,
Bäume, Blumen, Tiere damit vergleicht, wie formlos, ja
häßlich erscheinen da die Stuhl-, Tisch-, Schrankformen,
auf die der Künstler seine Mühen und seine Gestaltungs-
kraft verschwenden muß! Wie schlecht gehen sie unter
sich zu Gruppen und mit den Wänden zur Raumeinheit
zusammen! Und wenn das Einzelhaus kubisch einiger-
maßen befriedigen kann, so bildet wieder die fortlaufende
Häuserfront an der Straße, wie sie die heutige Stadt zeigt,
für das unbefangene Auge einfach eine künstlerische Un-
möglichkeit. Bei solcher Stadtanlage, solchen Haustypen,
solcher Bauauffassung erträgliche raumkünstlerische und
plastische Wirkungen zu erzielen, dürfte glatt unmöglich
sein. Städtische Straße und Stadthaus sind in ihrer gegen-
wärtigen Form ja auch gar nicht aus raumkünstlerischen

Absichten entstanden (was
eher beim Brunnen und
Denkmal zutreffen dürfte).
Da helfen keine nachträg-
lichen Fassadenkünste (die ja
an sich auch gar keine raum-
künstlerischen Mittel sind).
Die Stadt ist bei dem gegen-
wärtigen Typus vonHaus und
Straße für die Raumkunst
verloren. Und ähnlich unsere
Wohnräume und Einrich-
tungsgegenstände zum gro-
ßen Teil. Unsere Raumkunst
ist dazu verurteilt, an totkran-
ken Dingen herumzuhantie-
ren , hier ein Pflästerchen
aufzukleben, dort eine Krücke
zu bauen, sich zu plagen, aus
der künstlerisch unmöglichen
Stuhlform doch noch ein für
das Auge erträgliches Ge-
bilde zu gestalten — wäh-
rend die hundert und tausend
andern Formmöglichkeiten
ungeboren verkommen. —
Müssen wir diese ungünsti-
gen Raum- und Möbeltypen
so unbesehen und widerspruchslos hinnehmen, bloß weil
die Konvention darüber wacht, weil bisher keiner daran
zu rütteln wagte? Die gesunde Vernunft des Bürgers
wird zwar alsbald aufspringen, die (innerlich kranken)
Haus- und Möbelformen zu verteidigen, wenn wir da-
gegen anzugehen wagen. Aber wenn irgendwelche fremd-
ländischen Formen eingeführt werden, englische Club-
sessel, orientalische Polster und Kissen, dann ist alles in
Ordnung. Nur den eigenen Künstlern wird nicht gestattet,
freihin Formen zu rinden und zu erfinden. Nehmen wir
alle Gegenstände zusammen, die im Laufe der Jahr-
tausende uns und den verschiedenen Völkern als Sitz-
möbelgedienthaben und noch dienen, die Kasten, Truhen,
Hocker, Schemel, Böcke, Polster usw., so finden wir
fast jede denkbare kubische Form vertreten. Kommt nun
aber heutzutage der Künstler und zeigt uns eine etwas
neuartige Form als Sitz, so ist die Empörung groß und
er darf schon froh sein, wenn ihm nichts Schlimmeres
passiert, als nur für verrückt erklärt zu werden.

1917. IX. 3.
 
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