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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 49.1938

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Michel, Wilhelm: Neue Aufgaben
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https://doi.org/10.11588/diglit.10945#0289
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NEUE AUFGABEN

Die moderne Welt hat einmal von einer Erlösung
des Menschen durch die Technik geträumt. Sie
hat gleichzeitig, in einer geistigen Gegenbewegung,
eine Erlösung von der Technik für erstrebenswert ge-
halten. Aber als menschenwürdiges und heute schon
rüstig angegangenes Ziel ergab sich schließlich die Er-
lösung der Technik selbst - jener Vorgang, durch
welchen das Können des modernen homo faber le-
bensrichtig ins totale Menschendasein wieder einge-
baut wurde. Man kann leicht einsehen, daß diese Er-
lösung der Technik in der Tat Beziehung hat zu dem,
was Erlösung im religiösen Sprachgebrauch bedeutet:
Herausholung der Technik aus dem autonomistischen
Wahn und Einfügung in die Lebensbindung. Wie fern
liegen die Jahre, in denen die »Maschine« uns mo-
lochartig androhte! Welch sonderbare Dinge wurden
gedacht und geschrieben im Pro und Contra! Heute
liegt klar zutage: Technisches Arbeiten und Gestalten
hat keinen Augenblick aufgehört, eine Segenskraft zu
sein — aber technizistische Weltanschauung führte
Böses mit sich. Durch sie, nicht durch das technische
Können an sich, wurde eine Zeitlang die menschen-
gestaltige Welt gefährdet. Technik ist angewandter
Menschenverstand und somit, wie dieser, voll legiti-
miert. Technizistische Weltanschauung aber ist die
Vergötzung des Verstandes (d. h. ein Fall von ihr)
und somit Angriff auf die Ganzheit und natürliche
Binnenordnung der Menschengestalt.

Das braucht heute nur noch ausgesprochen und
festgestellt, es braucht nicht mehr verteidigt zu wer-
den. In dieser Frage hat der Mensch einstweilen den
Sieg davongetragen; einen Sieg des Ganzen über auf-
standslüsterne Teilkräfte.

Aber es ist möglich, aus dieser Tatsache mehr zu
schöpfen als eine bloße Feststellung. Sie kann frucht-
bar gemacht werden für eine weiter hinausdeutende
Orientierung. Sie kann eine neue Begeisterung spen-
den, die sich als echte Helferin gerade an den Lebens-
gestalter wendet, also an den Architekten aller Spiel-
arten, dazu an jeden Handwerker und an alle gewerb-
lichen Gestalter. Diese Berufe haben heute eine Mög-
lichkeit, die seit langem nicht gegeben war: Sie kön-
nen geistig aus dem vollen schöpfen, sie sind gerufen
zur Erzeugung einer Dingwelt, die aus den Kräften
der Mitte lebt. Statt der peripherischen Regungen
oder Bestimmungen des Menschseins ist dessen
Dauerndes und Kernhaftes wieder zu Ehren gekom-
men; damit ist dem weitverzweigten Beziehungs-
system, zu welchem Möbel, Geräte und alle geformten
Sachen gehören, wieder ein fester Mittelpunkt ver-
liehen. Darin liegt eine große Gunst der Stunde! Es
gibt ein neues, saftiges Weltergreifen, welches zum
Geistigen wie zum Leiblichen gleiche Beziehung an-
strebt; der Mensch der Mitte will sich realisieren.
Den falschen Abstraktionen, den lebensfremden Aus-
klammerungen ist der Nährboden entzogen. Und die-

sem kommenden Menschen der Mitte die entspre-
chende Lebensumgebung zu schaffen, ist die neue
Aufgabe, die uns winkt. Wir müssen sogar den Mut
haben, in diesem Menschen der Mitte den Träger des
neuen Bürgertums zu sehen - vorausgesetzt, daß wir
unter dem Bürgertum den Stand des vollmenschlichen
Lebens, nicht mehr den Ort der bequemsten Sicherung
erblicken können. Der Bürger unsrer Hansestädte
war kein Feigling, kein Lebensflüchtling, der als ver-
antwortungslose Privatexistenz am Leibe des Ganzen
schmarotzte. Der Bürger des antiken Stadtstaates zog
alle seine Würde aus dem lebendigen Einsatz für das
Vaterland. Und so kann man sagen: Schon mit der
heutigen Wiedergeburt der vaterländischen Verant-
wortung, die jeden betrifft, ist der »Bürger« des alten,
hohen Sinnes wiedergeboren. Er ist es, an den künftig
alle Gestaltung zu denken hat! Und seine voll ausge-
wirkte Menschlichkeit ist allein geeignet, dem gestal-
tenden Tun feste Richtlinien und Wertmaßstäbe zu
geben. Wie oft wurde in den letzten Jahrzehnten ver-
sucht, den Gaul am Schwanz aufzuzäumen und in
einer Welt, die keinen fest auf der Erde stehenden
Menschentyp zur Mitte hatte, die Werte des guten
Handwerks zur Geltung zu bringen! Aber das
Dauernde kann nur schätzen, wer selbst im Dauern-
den gegründet ist; das Echte findet nur da seine Ehre,
wo es zu echten, d. h. jeder Strecke Wirklichkeit
standhaltenden Menschen kommt. Handwerk braucht
wohl einen wirtschaftlichen Boden, aber vor allem
braucht es einen seelischen Boden - dann wird der
wirtschaftliche sich leicht gründen lassen.

Gewiß hat es auch bisher nicht an Künstlern und
Kunsthandwerkern gefehlt, die sich die rechten Maß-
stäbe erhalten hatten. Aber nie ist eine Kultur groß
geworden, in der es das Gute »auch« gab, als privaten
Glücksfall. Der Geist der Zeiten ist es, der die ent-
scheidenden Antriebe, Lebensgefühle und Gestal-
tungsmöglichkeiten stiftet. Was liegt daran, ob Mei-
ster Grünewald persönlich ein gläubiger Kirchenchrist
war oder nicht? Er lebt im Zeitalter, wo ein Glauben
die Atmosphäre füllte, dem sich keiner entzog. Das
will sagen: Es gibt eine Gunst und eine Ungunst der
geistigen Weltstunde - und die Gunst der jetzigen
liegt darin, daß sie den Vollmenschen wieder kennt
und damit den wertvollen Antrieb zur Erschaffung
einer Dingwelt, welche die Freude am Menschen, den
Mut zu aller Wirklichkeit im Leibe hat. Das ist etwas
Großes! Die Sprache ist wiedergeboren, ebenso das
gute Gewissen des Menschen zu sich selbst. Die fal-
schen Entweder-Oder sind getilgt; eine Gestaltung
kann platzgreifen, welche keinen Gegensatz zwischen
Schön und Nützlich, Stoff und Form mehr kennt, son-
dern aus dem Ganzen lebt, das all dies übergreift: aus
dem lebendigen Menschen. Das schenkt sich als Wohl-
tat und mächtige Förderung jedem Schaffenden, der
die Stunde empfindet. - Wilhelm michel
 
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