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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 51.1940

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Michel, Wilhelm: Zweckform und Kunstform
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https://doi.org/10.11588/diglit.10972#0177
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INNEN-DEKOR AT ION

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das Ohr der Zeit fand und die Dichtung überall kränkli-
che, lebensabgewandte Erscheinungen hervorbrachte?

Es sind wohl die geheimeren Lebensreserven einer
Zeit und eines Kulturkreises, welche in der Kunst und
somitauch in der Wohnungsgestaltung zumAusdruck
kommen; und diese geheimen Lebensreserven können
sich in absteigender Kurve bewegen, trotzdem und
während die Umwelt von Zeichen der Prosperität er-
füllt ist. Nicht das greifbare, äußere Schicksal, son-
dern der Vorrat an Vitalität scheint das Temperament
einer Zeit und ihrer Kunst zu bestimmen. Diese Vita-
lität kann männlich geartet sein, wie zur Zeit der
hohen Renaissance; sie kann weiblichere Züge tra-
gen, wie im Rokoko. Sie kann sich äußern als spielen-
des, formentreibendes Leben, das sich in kindlicher
Fröhlichkeit oder in üppigem Machtgefühl auslebt; sie
kann sich aber auch, wie in unsrer Zeit, als ruhiger
Wille und fester Verstand äußern, denn in diesen be-
kundet sich vielleicht am entschiedensten, daß der
Mensch in seiner Welt wirkliche Herrschaft besitzt.

Wenn wir also sagen können, daß die heutige Welt
(ihr Menschentum, ihre Kunst, ihre Lebensgestal-

1940. VI. 2

tung) bei weitem am stärksten vom zielstrebigen Wil-
len und vom klaren Verstände geprägt ist, so muß da-
bei begriffen werden, daß dies Ausdruck von Lebens-
kraft ist, weitab von jenem Bewußtseinskrampf, der
eine intellektualistische Periode in die Sackgasse einer
überspitzten sogenannten Sachlichkeit verlockte. Wir
sehen heute den Gegensatz zwischen Zweckform und
Kunstform zu einem Ausgleich gebracht, der eine ent-
spannte Harmonie aufweist. Dieser Ausgleich führt
den heutigen höheren Kulturbegriff zum Sieg, nach
welchem es vor allem darauf ankommt, daß ein gan-
zes Volk durch alle Schichten hindurch lebendigen
Anteil an der nationalen Lebensform hat. Wir wissen
die herrlichen Arbeiten eines Riesener, des Ebenisten
der Marie Antoinette, eines Spindler, eines Oeben,
eines Cuvillies zu bewundern, die in Schlössern und
Museen aufbewahrt werden. Aber wir täuschen uns
nicht mehr darüber, daß das Vorhandensein hochge-
triebener Spitzenleistungen nicht schon die Geformt-
heit eines Volkes bedeutet. Und auf ihr müssen wir
bestehen. Denn als Ganzheiten sind heute die Völker
geschichtlich angesetzt, die Gedanken, die Werte müs-
 
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