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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 53.1942

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Tschauner, Ellie: Der springende Hirsch: eine "gläserne" Kindheitserinnerung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10968#0307
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INNEN-DEK ORATI ON

299

DER SPRINGENDE HIRSCH

EINE »GLÄSERNE« KINDHEITSERINNERUNG

Einmal, wir mochten ABC-Aspiranten im ersten
Schuljahr sein, kam ein Glasbläser zu uns in
die Klasse. Mitten zwischen uns schlug er seine
kleine Werkstatt auf, ein Flämmchen flackerte, mit
einem Stäbchen fuhr er in die flüssigzähe Masse,
blies, und es bildete sich an dessen unterem Rand eine
Kugel erst und dann ein Glas mit kunstvoll gedreh-
tem Stil. Ein Stern mit klaren und gleichmäßigen
Zacken. Ein springender Hirsch, ein kleines Mädchen
mit einem wehenden Schal und mancherlei mehr.

Wir waren hingerissen. Unsere Wangen glühten.
Wir empfanden Begeisterung und beinah Andacht
vor dem Wunder, das sich unseren Augen bot.

Es sind nun Jahre seitdem vergangen. Aber etwas
von diesem damaligen großen und tiefschürfenden
Eindruck blieb: eine zärtliche Liebe und Bewunde-
rung zu schönem, zartfarbigem Glas. Zu seinen
phantasievollen Formen, zu seinem schimmernden
Reiz, zu der Technik seiner Ausführung, zu der Art
seines Materials. Das erste Viertel dieses Jahrhun-
derts, besonders die Zeit vor dem ersten Weltkrieg,

in dem Bestreben, ihren Reichtum offen darzubieten,
schätzte das Kristall fast als überbetonte Mode. Es
überschwemmte die pompös hohen oder langge-
zogenen, schwer geschnitzten Büfetts und bot hier
eine kalte und stolze Pracht entgegen. Gewiß, sein
Handschliff, oft in beglückend schönen Mustern, das
Farbenspiel einfallenden Lichts machen es kostbar
und anziehend zugleich. Aber erst dieses Aufstrahlen
weckt es aus seiner Starre zum Leben und die Ver-
bindung mit den seinem Gebrauch zugedachten
Dingen: Blumen, Früchten, edlen Weinen — sie
erst lösen den gewinnenden Eindruck des Ganzen zu
anheimelnder Gefälligkeit.

Anders ist es bei Glas. Trotz seiner ausgesprochenen
Schlichtheit wirkt es in seiner sanften Farbigkeit
und dem unerschöpflichen Reiz immer neuer Linien
so sehr durch sich selbst, daß eine Vase seine Blüten,
eine Schale keinen Inhalt braucht, um ihren Charak-
ter voll zu entfalten. Die klar erkennbare Schönheit
braucht keinen Rahmen und keine Steigerung, sie
besticht und fesselt durch sich selbst. - e.tschauner
 
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