88
Alois Riegl.
Fig. 4. Jan van Scorel. Die Utrechter Jerusalemfahrer aus den Jahren 1520 bis 1524.
Utrecht, Museum Kunstliefde. — Linke Hälfte.
Jan van Scorels
Gruppenporträt
der Jerusalem-
fahrer
von Haarlem.
nehmen möchte, dass das Bild diesmal von einem anderen als dem malkundigen Grabesbruder selbst
ausgeführt wäre. Da nun zwei von den übrigen Utrechter Bildern mit dem eben erwähnten aufs Engste
zusammenhängen, meint man auch, sie dem Jan van Scorel zuweisen zu sollen, während das vierte und
letzte jetzt allgemein dem Antony Mor zugeschrieben wird.1
Das Haarlemer Bild (Fig. 1, S. 71) zeigt zwölf Grabesbrüder in Halbfiguren, baarhaupt, paarweise in
Procession nach Links hin schreitend, wo zum Abschlüsse ein Bild der heiligen Grabeskirche in einem
oben halbrund geschlossenen Rahmen sichtbar wird. Dieses wird von einem Diener gehalten, dessen Kopf
hinter dem Rahmen hervorkommt und den Pilgern entgegenschaut, wodurch deren einseitige Bewegungs-
richtung noch eine Verstärkung erfährt; vom Diener sieht man ausserdem noch die Fingerspitzen beider
Hände, mit denen er das Bild oben und unten festhält und dasselbe auf solche Weise im Räume loca-
lisiert. Die geschulterten Palmzweige in den Händen der Pilger ragen über ihre Köpfe hoch hinaus
und verstärken mit ihren zurückgewandten Spitzen abermals das Richtungsmoment. Der Hintergrund
erscheint als Wand charakterisiert, da sich in der Scheitelhöhe der Figuren ein Getäfel hinzieht, in
dessen Fries die einzelnen Wappen und Devisen der darunter schreitenden Brüder aufgemalt sind.
Unten werden die Figuren in der Höhe der Hüften durch die Brüstung einer horizontalen Schranke
abgeschnitten, auf welcher mehrere Zettel aufgenagelt sind. Aus ihren Inschriften erfahren wir die
Namen der einzelnen Brüder. Der Zettel, auf welchem Scorels Name verzeichnet steht, ist mit der
Ecke umgebogen; die zugehörige Figur ist die dritte von rechts, in der uns somit Scorels authentisches
Selbstbildnis erhalten ist.
Was der Auffassung dieses Bildes die Einheit gibt, ist die Procession: und somit eine Handlung.
Sie drückt sich aus in der gemeinsamen Richtung, in der sich alle nach dem heiligen Grabe hin be-
1 Dies ist das Urtheil Karl Justis über die Autorschaft der Utrechter Bilder, der die erste grundlegende Charakteristik
derselben in seinem Aufsatz über Jan van Scorel im Jahrbuch der kgl. preuss. Kunstsammlungen II, ioj ff., geliefert hat. Da
ich die Utrechter Bilder nur aus Photographien kenne, möchte ich an ihrer Herstellung durch Scorel umsoweniger Zweifel
äussern, als man in grösste Verlegenheit geriethe, wenn man an seiner Stelle einen anderen Meister für die Bilder nennen
sollte, die offenbar die Hand sowohl eines tüchtigen Porträtmalers als eines in Italien Gewesenen verrathen. Doch darf ich
nicht verschweigen, dass das Wappen, das dem Scorel im Utrechter Bilde (Fig. 7, der erste Kopf links) beigegeben erscheint,
mit demjenigen, das ihn auf dem vom Meister nachweislich gemalten Haarlemer Bilde (Fig. 1, der dritte Kopf von rechts)
begleitet, zwar verwandt aber nicht identisch ist, was die Vermuthung aufkommen lassen könnte, dass der Maler des Ut-
rechter Bildes das Scorel'sche Wappen nicht genau gekannt hat und folglich ein anderer als Scorel selbst gewesen sein
müsste. Die Gesichtszüge beider Figuren gestatten zwar dermalen keine entscheidende Vergleichung, weil gerade Scorels
Kopf im Utrechter Bilde stark übermalt ist und daher in der Photographie ganz trüb erscheint. Aber auch in dieser Hin-
sicht kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, dass mir auf dem Utrechter Bilde der Kopf, der vor dem mit Scorels
Namen bezeichneten (also rechts von diesem) auf den Beschauer herausblickt, mit dem authentischen Scorel-Kopf des Haar-
lemer Bildes weit mehr Verwandtschaft zu zeigen scheint als jener übermalte. Es drängt sich mir daher die Frage auf, ob
auf dem Utrechter Bilde nicht Wappen und Beischriften nachträglich hinzugefügt oder später gänzlich erneuert worden seien,
worauf die im Zuge befindliche Reinigung wohl eine sichere Antwort geben dürfte.
Alois Riegl.
Fig. 4. Jan van Scorel. Die Utrechter Jerusalemfahrer aus den Jahren 1520 bis 1524.
Utrecht, Museum Kunstliefde. — Linke Hälfte.
Jan van Scorels
Gruppenporträt
der Jerusalem-
fahrer
von Haarlem.
nehmen möchte, dass das Bild diesmal von einem anderen als dem malkundigen Grabesbruder selbst
ausgeführt wäre. Da nun zwei von den übrigen Utrechter Bildern mit dem eben erwähnten aufs Engste
zusammenhängen, meint man auch, sie dem Jan van Scorel zuweisen zu sollen, während das vierte und
letzte jetzt allgemein dem Antony Mor zugeschrieben wird.1
Das Haarlemer Bild (Fig. 1, S. 71) zeigt zwölf Grabesbrüder in Halbfiguren, baarhaupt, paarweise in
Procession nach Links hin schreitend, wo zum Abschlüsse ein Bild der heiligen Grabeskirche in einem
oben halbrund geschlossenen Rahmen sichtbar wird. Dieses wird von einem Diener gehalten, dessen Kopf
hinter dem Rahmen hervorkommt und den Pilgern entgegenschaut, wodurch deren einseitige Bewegungs-
richtung noch eine Verstärkung erfährt; vom Diener sieht man ausserdem noch die Fingerspitzen beider
Hände, mit denen er das Bild oben und unten festhält und dasselbe auf solche Weise im Räume loca-
lisiert. Die geschulterten Palmzweige in den Händen der Pilger ragen über ihre Köpfe hoch hinaus
und verstärken mit ihren zurückgewandten Spitzen abermals das Richtungsmoment. Der Hintergrund
erscheint als Wand charakterisiert, da sich in der Scheitelhöhe der Figuren ein Getäfel hinzieht, in
dessen Fries die einzelnen Wappen und Devisen der darunter schreitenden Brüder aufgemalt sind.
Unten werden die Figuren in der Höhe der Hüften durch die Brüstung einer horizontalen Schranke
abgeschnitten, auf welcher mehrere Zettel aufgenagelt sind. Aus ihren Inschriften erfahren wir die
Namen der einzelnen Brüder. Der Zettel, auf welchem Scorels Name verzeichnet steht, ist mit der
Ecke umgebogen; die zugehörige Figur ist die dritte von rechts, in der uns somit Scorels authentisches
Selbstbildnis erhalten ist.
Was der Auffassung dieses Bildes die Einheit gibt, ist die Procession: und somit eine Handlung.
Sie drückt sich aus in der gemeinsamen Richtung, in der sich alle nach dem heiligen Grabe hin be-
1 Dies ist das Urtheil Karl Justis über die Autorschaft der Utrechter Bilder, der die erste grundlegende Charakteristik
derselben in seinem Aufsatz über Jan van Scorel im Jahrbuch der kgl. preuss. Kunstsammlungen II, ioj ff., geliefert hat. Da
ich die Utrechter Bilder nur aus Photographien kenne, möchte ich an ihrer Herstellung durch Scorel umsoweniger Zweifel
äussern, als man in grösste Verlegenheit geriethe, wenn man an seiner Stelle einen anderen Meister für die Bilder nennen
sollte, die offenbar die Hand sowohl eines tüchtigen Porträtmalers als eines in Italien Gewesenen verrathen. Doch darf ich
nicht verschweigen, dass das Wappen, das dem Scorel im Utrechter Bilde (Fig. 7, der erste Kopf links) beigegeben erscheint,
mit demjenigen, das ihn auf dem vom Meister nachweislich gemalten Haarlemer Bilde (Fig. 1, der dritte Kopf von rechts)
begleitet, zwar verwandt aber nicht identisch ist, was die Vermuthung aufkommen lassen könnte, dass der Maler des Ut-
rechter Bildes das Scorel'sche Wappen nicht genau gekannt hat und folglich ein anderer als Scorel selbst gewesen sein
müsste. Die Gesichtszüge beider Figuren gestatten zwar dermalen keine entscheidende Vergleichung, weil gerade Scorels
Kopf im Utrechter Bilde stark übermalt ist und daher in der Photographie ganz trüb erscheint. Aber auch in dieser Hin-
sicht kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, dass mir auf dem Utrechter Bilde der Kopf, der vor dem mit Scorels
Namen bezeichneten (also rechts von diesem) auf den Beschauer herausblickt, mit dem authentischen Scorel-Kopf des Haar-
lemer Bildes weit mehr Verwandtschaft zu zeigen scheint als jener übermalte. Es drängt sich mir daher die Frage auf, ob
auf dem Utrechter Bilde nicht Wappen und Beischriften nachträglich hinzugefügt oder später gänzlich erneuert worden seien,
worauf die im Zuge befindliche Reinigung wohl eine sichere Antwort geben dürfte.