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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0108
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Alois Riegl.

Historienmaler sondern auch der locale Porträtmaler der Amsterdamer Kaufleute eine bestimmte
Wendung zum Romanismus für die Fortbildung der damaligen holländischen Kunst für unausweich-
lich hielt. Aber sieht man diese Neuerungen genauer an, so bemerkt man sofort das specifisch Hollän-
dische darin. Die Handlungen sind niemals in sich abgeschlossen sondern gleichsam halbiert, indem
der Handelnde dabei in Verkehr mit einem unsichtbaren Partner tritt. Bei Dirk Jacobsz blicken alle
Figuren (bis auf Einen) nach der Seite des Beschauers heraus, der ewig ausserhalb des Bildes bleibt.
Die Pilger des Jan van Scorel trugen ruhig ihre Palmen und es bedurfte zur Erklärung dieser Handlung
keiner weiteren Ergänzung; die Schützen des Dirk Jacobsz hingegen zeigen ihre Schreibfedern, ihren
Capitän, ihr kameradschaftliches Verhältnis einem Dritten (genauer gesagt zahllosen Dritten), der im
Bilde fehlt und hinzugedacht werden muss. In diesem Punkte ruht der Schlüssel für eine richtige Er-
klärung des holländischen, genauer gesagt, des Amsterdamer (denn in Haarlem werden wir gerade in
diesem Punkte eine grundsätzliche Abweichung antreffen) Gruppenporträts. Die anscheinenden Hand-
lungen desselben sind niemals wirkliche, abgerundete, geschlossene Handlungen: sie sind es nur im
Bewusstsein des betrachtenden Subjectes, das ihnen in sich selbst die zusammenfassende Einheit ver-
leiht. Es ist also geradezu der moderne Subjectivismus, der. sich hierin ausspricht, dem aber ein Wesent-
liches fehlt: die Individualität des Subjectes; denn, wie wiederholt betont wurde, sind die Blicke der
Schützen nicht auf einen einzigen Punkt (ein Augenpaar) gerichtet sondern ihre Zielpunkte sind über
einen grösseren Kreis vertheilt, innerhalb dessen zahllose Zuschauer Platz haben. Mit anderen Worten:
das betrachtende Subject ist noch allgemein und nicht individuell gefasst. Der Fortschritt gegen die
moderne Auffassung hin, der in der holländischen Kunst des XVI. Jahrhunderts geschehen war, liegt
offen zu Tage: aber anderseits ist die Kluft zwischen beiden nicht zu übersehen, an deren Ueber-
brückung noch Jahrhunderte zu arbeiten haben sollten.

Auch die neu aufgekommene Subordination unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkte
von der italienischen. Die Action keiner einzigen Figur beansprucht für sich eine solche Bedeutung,
dass wir daran den Capitän erkennen könnten: wir vermuthen ihn blos in dem Schützen unterhalb
der Jahreszahl, weil auf ihn vier seiner Kameraden mit Fingern deuten. Seine eigene Action beschränkt
sich darauf, dass er die Linke etwas schüchtern und zurückhaltend gegen den Beschauer ausstreckt, um
dessen Aufmerksamkeit zu erwecken: eine Action, die als solche noch durchaus nicht geeignet scheint,
der sie vollführenden Persönlichkeit ein natürliches Uebergewicht über die Anderen zu verleihen. Die
einzige Auszeichnung bleibt somit der vierfache Fingerzeig der Kameraden und diese sind es also,
die freiwillig den Commandanten creiren und sich ihm subordinieren, und nicht der Capitän selbst,
der sich im egoistischen Drange der Isolierung über seine Mitschützen erheben wollte.

Betrachtet man aber die siebzehn Köpfe auf ihren psychischen Ausdruck hin, so verrathen sie
zwar weniger individuelle Lebhaftigkeit aber mehr Gemüthstiefe als in den späteren Bildern des Jan
van Scorel. Keiner von Dirk Jacobsz' Köpfen kündet von physischer Schlagfertigkeit oder hoher Denk-
kraft, womit sein Eigner die Aussendinge physisch oder geistig zu überwinden und sich unterzuordnen
trachten würde; dafür begegnet man allenthalben einem schlichten, wohlwollenden Ausdruck, der zwar
nichts von seiner Würde preisgibt aber offenbar die Aussendinge nimmt, wie sie sind, und dieselben
anspruchslos respectiert, den gleichen Respect jedoch wohl auch für sich fordert.

Vergleicht man diese Köpfe von 1529 mit denjenigen, die Dirk Jacobsz später in den Fünfziger-
jahren auf die Flügel desselben Bildes (Fig. 21 und 22) gemalt hat, so fällt sofort die Innerlichkeit des
Blickes der ersteren gegenüber der gesteigerten äusseren Lebhaftigkeit der späteren auf. Die Aufmerk-
samkeit verräth in diesem früheren Stadium noch viel von der idealen Erhabenheit über jede Beschrän-
kung in Raum und Zeit, wie wir sie bei Geertgen angetroffen haben. Die Absicht des Meisters war in sei-
nen frühesten Gruppenporträten wesentlich noch auf die Charakterisierung innerer Sammlung gerichtet,
die er freilich später, parallel mit der allgemeinen Steigerung der romanistischen Tendenz in der holländi-
schen Malerei, selbst mehr und mehr preisgeben sollte. Ein in seiner Art ganz einziges Beispiel der Ver-
sinnlichung innerer psychischer Thätigkeit an einer Porträtfigur bietet ein Bild der kaiserlichen Galerie
in Wien (Fig. i3), mit der Darstellung eines bartlosen Mannes in mittleren Jahren, der, en face zum Be-
 
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