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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Riegl, Alois: Das holländische Gruppenporträt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0148
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Alois Riegl.

nur vier Personen um das Raumcentrum versammelt waren, so sind nun alle ohne Ausnahme um den
centralen Tisch gruppiert; hält man jene Mahlzeit des C. Teunissen von 1533 daneben, so merkt man,
wie jetzt der tiefer gelegte Augenpunkt und die Beseitigung der hinteren stehenden Reihe von Schützen
sowie die Besetzung des Tisches auf allen vier Seiten den Gesammteindruck der Wirklichkeit, d. h. der
Erfahrung unseres subjectiven Sehens nähergebracht hat. Alle die verschiedenen Symbole des Hand-
auflegens und wechselseitigen Fingerzeigens, der Warfen und der Schreibfeder u. s. w. sind ver-
schwunden und nur ein einziges Symbol ist verblieben: die Mahlzeit; denn das Blatt Papier in der
Hand eines Schützen ist wohl ein Notenblatt, das den Rundgesang beim Liebesmahl symbolisieren
soll. Sogar ein Nichtschütze hat darum Aufnahme gefunden: die Aufwärterin, die die Speisen herbei-
trägt. Das Motiv der Schützenmahlzeit hat sonach eine wirkliche Einheit in die Auffassung der Gruppe
gebracht, und zwar in noch höherem Maasse, als es durch die einseitige Richtung im letzten Bilde des
Dirk Jacobsz bewerkstelligt worden war. Und was die Raumcomposition betrifft, so wenden jetzt gleich
drei Personen im Vordergrunde dem Beschauer den Rücken zu und schliessen die Raumgruppe gegen
den Beschauer hin zu einem runden Ganzen ab. Der subjectivistische Vorstoss von 1564 hat hier also
überall, in Auffassung und Composition, seine consequente Fortsetzung und systematische Ausbildung
erfahren und es ist Zeit, uns dagegen ins Bewusstsein zu bringen, wie weit in dem Bilde noch der
Objectivismus sein Recht behauptet hat.

Das Vorhandensein dieses letzteren wird uns sofort klar, wenn wir uns fragen, ob die ein-
zelnen Schützen sich so benehmen, wie wir erfahrungsgemäss Leute bei der Mahlzeit beobachten
können. Da sind Einige, die das Trinkglas oder die Kanne in der Hand halten; aber dieses Motiv
kannte schon die symbolistische Auffassung. Links schneidet ein Schütze eine Semmel entzwei und
dieses genremässige Motiv entspricht dem Zurichten des Harings im Bilde von 1564. Das Anstössige
für den modernen Beschauer liegt nun darin, dass auch bei dieser momentanen Hantierung die Auf-
merksamkeit des betreffenden Schützen keineswegs dem Gegenstande gilt, den er eben in Händen
hält, noch der Action, in der er begriffen erscheint, sondern irgend einem anderwärts gelegenen un-
definierbaren Zielpunkte. Sogar die Aufwärterin, die es doch eilig haben muss, da sie die Teller mit
den Häringen so weit von sich den Gästen entgegenstreckt, schaut dabei genau nach der entgegen-
gesetzten Richtung aus dem Bilde heraus. Damit ist aber der an sich genremässigen Handlung der
echte subjectiv genremässige Charakter wiecier genommen und ein symbolistischer Charakter gegeben,
der in objectivistischem Sinne wirkt. Rechts von der Mitte gewahren wir einen sitzenden Schützen,
der das holländische Kunstwollen auf dieser Entwicklungsstufe besonders drastisch kennzeichnet. Er
hat die beiden Arme gekreuzt vor die Brust gelegt und in seiner Rechten sieht man noch das Messer als
Symbol seiner Theilnahme an der Mahlzeit; aber den Kopf hat er aufmerksam zur Seite gewendet. Die
active Theilnahme am Mahle wird hier also offenbar und absichtlich sistiert und der Charakter der psy-
chischen Lebensäusserung, der Aufmerksamkeit, durch die gekreuzten Arme und die Seitenbiegung des
Kopfes zum Ausdruck gebracht. Wo das Ziel seiner Aufmerksamkeit zu suchen ist — ob in den Worten
des hinter ihm stehenden Schützen oder in den Figuren der gegenüberliegenden Ecke —, bleibt unklar
und sollte dies wohl auch; denn nicht genremässige, in Raum und Zeit localisierte Aufmerksamkeit
sondern eine objective, absolute, symbolische Aufmerksamkeit wollte der Meister zur Darstellung
bringen. Diesem Erfordernisse des Gruppenporträts wurde an allen bisher betrachteten Schützen-
stücken auch dadurch entsprochen, dass die porträtierten Schützen zwar entweder, wie bei Dirk Jacobsz,
nach einem engere-n, einheitlicheren Ziele oder, wie bei Teunissen und dem Meister von 1554, nach
weiter auseinanderliegenden und wechselnden Zielpunkten, niemals aber wechselseitig auf einander,
d. h. auf einen der Kameraden im Bilde gerichtet waren. Im Allgemeinen hat nun auch Dirk Barentsz
im Bilde von 1566 dieses Postulat erfüllt; aber zweimal hat er es doch wenigstens zum Theile durch-
brochen und damit für fernere grundstürzende Neuerungen Thür und Thor geöffnet. Auf zwei Punkten
des Bildes sehen wir nämlich je zwei Figuren untereinander in directen Verkehr gesetzt. Einmal links
von der Mitte, wo ein Schütze dem in der Mitte Präsidierenden die Rechte auf den Arm legt und
gleichzeitig mit der Linken senkrecht aus dem Bilde heraus auf den Beschauer weist. Diese Bewegungen
 
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