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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 23.1902

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I. Theil: Abhandlungen
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Schlosser, Julius von: Zur Kenntnis der künstlerischen Überlieferung im späten Mittelalter
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https://doi.org/10.11588/diglit.5950#0287
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Zur Kenntnis der künstlerischen Ueberlieferung im späten Mittelalter.

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gen in der Provinz und auf der ländlichen Flur verebbt. Was man von Niccolö Pisano gesagt hat, dass
bei ihm die Antike an Stelle des Naturmodells trete, lässt sich mit einiger Aenderung auch auf diese
Dinge anwenden. Auf der anderen Seite sind die Heerführer des Mittelalters, ein Giotto, ein Ambrogio
Lorenzetti oder einer der grossen namenlosen Gotiker in ihrer Weise ebenso schöpferisch und
erfindungsbegabt gewesen als irgend einer der Heroen der neueren Kunst. In ihrer Weise — darum
handelt es sich hier, denn ihr Schaffen ist doch in ganz anderen Bahnen verlaufen. Leichter wird
sich dies jedenfalls an dem corpus vile eines Durchschnittes der künstlerischen Production erproben
lassen. Die Wechselwirkung zwischen dem grossen Individuum, seiner Zeit und seinen Vorgängern
ist niemals auf eine starre Formel zu bringen. Dass sie vorhanden ist, lehrt nicht blos die Geschichte
der Künste sondern noch viel mehr die der freizügigeren wissenschaftlichen Entdeckungen; in diesem
Betracht ist nichts so merkwürdig als das fast gleichzeitige Ergreifen des schon bei Kant vorhandenen
Gedankens der Abstammungslehre durch Goethe, Lamarck und Eras-
mus Darwin, deren keiner, wie es scheint, von dem anderen Kunde ge-
habt hat.

Das künstlerische Schaffen des Mittelalters ist für uns, die wir an
eine ganz andere Gedankenrichtung und vor Allem an eine anders ge-
artete Kunst gewöhnt sind, nicht ohne Weiteres verständlich, obwohl
es im Grunde dem naiven Denken entspricht; keinem Kinde und keinem
ethnisch oder social primitiven Menschen wird es a priori einfallen, einen
■ beliebigen Gegenstand der Wahrnehmung zu zeichnen, wie er ihn sieht,
nicht wie er ihn denkt; dem Ersatz des Gedachten durch das Geschaute
liegt ein umständlicher psychischer Process voraus, den der grösste Theil
der historischen wie der lebenden Völker überhaupt nicht vollzogen hat.
Auch der vorgebliche Realismus der urthümlichen Renthierjäger Süd-
frankreichs ist wohl nur ein Schein für uns. Das Erinnerungsbild eines
Hirsches oder Hechtes hat gewiss im Kopfe eines Waidmannes oder
Fischers ganz andere, schärfere Züge als in dem eines Stadtbewohners,
dem sich sofort ein Conventionelles Fabelbild unterzuschieben pflegt.
Dem steht nicht im Wege, dass es in bestimmten Entwicklungen vor
dem Zwange der Stilisierung zurückweicht. Wenn ein Künstler der Fig. 2. Aus Villards Album,

Hochgotik gleich Villard, dessen Zeichnungen feinstes Liniengefühl ver-

rathen, einen an die Kette gelegten Löwen aus irgend einem Zwinger zeichnet (Fig. 1), der in uns
bedenkliche Erinnerungen an gewisse Scherze der Fliegenden Blätter wachruft, und wenn er dazu
ausdrücklich bemerkt, er habe ihn nach dem Leben gezeichnet, so missverstehen wir ihn und thun
ihm bitteres Unrecht, wenn uns über sein Product ein Lächeln ankommt, wozu wir freilich von unse-
rem Standpunkt aus wieder berechtigt sind. Es ist genau dieselbe Geschichte wie mit den vielbe-
rufenen Quarten- und Quintenfolgen des frühen Mittelalters, über die soviel unsinniges Zeug ge-
schrieben worden ist und in denen selbst ernsthafte Musikkritiker eine ästhetische Pönitenz des Ohres
und Gott weiss was noch Alles entdecken wollten, blos weil sie unserem tonalen Gefühl, wie es sich
seitdem entwickelt hat und das, nebenbei gesagt, heute schon erheblich von jenem der Zeit Mozarts ab-
weichen dürfte, schnurstracks entgegen sind.1 Ebensowenig existiert für den gotischen Zeichner unsere
Auffassung vom Wesen der Malerei; für ihn hat vor Allem die Frage nach unmittelbarer Wiedergabe
der Natur gar keinen Sinn und »nach dem Leben gezeichnet« heisst ihm etwas ganz Anderes. Es ist
der interessante Inhalt, den er dem Beschauer nahebringen möchte, eine Curiosität, wenn man

1 Einer dieser Kritiker hat sogar die vom Standpunkt der Entwicklungslehre wie der Thierpsychologie aus gleich merk-
würdige Entdeckung gemacht, dass die jetzigen Hunde, die sich Terzenfolgen gegenüber passiv verhielten (?), bei Quarten-
folgen ihren ganzen Jammer empfinden Hessen. Schade, dass uns nichts von den Wirkungen des Organums auf die Hunde
des Mittelalters überliefert ist. Wohl aber wissen wir, dass unsere Musik auf chinesische Ohren denselben Eindruck macht
wie die ostasiatische auf uns, nämlich den eines unfasslichen Durcheinanders.

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