Zur Kenntnis der künstlerischen Ueberlieferung im späten Mittelalter.
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auftritt. Das erhellt recht deutlich aus einem charakteristischen Detail. Bei beiden Thieren ist zwischen
und neben den ausgespreizten Vorderbeinen keine Spur des Schweifes noch auch der Hinterbeine zu
sehen, die doch in einer solchen Stellung irgendwie wahrgenommen werden müssten. Es ist das weni-
ger ein Beleg für die erwähnte Unvollständigkeit des Erinnerungsbildes als für den verwandten, in ganz
bestimmter Richtung verlaufenden Gedankengang bei der Construction des Erinnerungsbildes, der den
beiden örtlich und zeitlich getrennten Künstlern, dem Franzosen wie dem Deutschen, die Hand geleitet
hat. Denn derselbe Villard hat auf einem anderen Blatte seines Skizzenbuches (s. die Titelvignette)
einen Reiter, der sein gerade von vorne gesehenes Ross besteigt, gezeichnet und in genauer, peinlicher
Symmetrie Hinterbeine und Schweif des-
selben nachconstruiert. Es ist doch nur ein
Schein, wenn wir aus unserer Aurfassung
heraus meinen, er habe sich derWirklichkeit
näher gehalten, richtiger gesehen; dieser
Scurzo ist nicht minder eine Gedanken-
construction, die nur durch eine andere
Ueberlegung zustande gekommen ist aber
mit unmittelbarer Anschauung eben so viel
und wenig zu thun hat als der zweibeinige
Löwe in seinem naiven und primitiven Ge-
dankenimpressionismus. Kaum ein anderes
Beispiel dürfte lehrreicher sein für das
gegenseitige Verhältnis zwischen Wahr-
nehmung und Gedankenbild in der künst-
lerischen Phantasie des Mittelalters. Und
das gilt nicht nur für das reine Naturobject.
Genau den nämlichen Standpunkt erkennen
wir in dem Verhalten des mittelalterlichen
Künstlers gegenüber dem aus einer ganz an-
deren Anschauung hervorgegangenen und
fremd gewordenen Kunstwerk der Antike;
es ist nach dem vorher Gesagten eigentlich
nur ein äusserliches Moment, wenn Villard
seine merkwürdig umstilisierte Skizze eines
Heidengrabes (abgebildet in diesem Jahr-
buche XVIII, 88) selbst als aus der Erinne-
rung geschöpft bezeichnet.
Auch bei dem Künstler der Renais-
sance ist der erste Entwurf, aus dem das
fertige Kunstwerk schliesslich hervorgeht,
wie ein Tonsatz aus der Keimzelle des musikalischen Motivs, wohl gewöhnlich ein mit grosser Kraft
sich aufdrängendes Gedankenbild. Aber schon diese rasch auf das Papier geworfene Improvisation1 ist
bei dem modernen Zeichner durch seine künstlerische Erziehung, durch die Gewöhnung des Auges
und der Hand an das bewegte und ruhende Naturobject bestimmt, wenn sie nicht gar auf direct fest
gehaltene sinnliche Eindrücke zurückgeht. Die bekannte Anekdote, die sich an Raffaels Madonna
della Seggiola knüpft, ist gewiss erfunden aber innerlich wahr im Sinne jeder echten Anekdote; nach
den schönen Worten über das Wesen der historia altera, die uns jüngst aus Jakob Burckhardts Nach-
lass bekannt geworden sind, ist es unnöthig, darüber Weiteres zu sagen. Wird doch selbst von einem
Fig. 3. Wachsmut von Künzingen.
Aus der Manessischen Liederhandschrift. Nach Kraus.
Ein berühmtes Analogon wären Beethovens Studienhefte.
V
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auftritt. Das erhellt recht deutlich aus einem charakteristischen Detail. Bei beiden Thieren ist zwischen
und neben den ausgespreizten Vorderbeinen keine Spur des Schweifes noch auch der Hinterbeine zu
sehen, die doch in einer solchen Stellung irgendwie wahrgenommen werden müssten. Es ist das weni-
ger ein Beleg für die erwähnte Unvollständigkeit des Erinnerungsbildes als für den verwandten, in ganz
bestimmter Richtung verlaufenden Gedankengang bei der Construction des Erinnerungsbildes, der den
beiden örtlich und zeitlich getrennten Künstlern, dem Franzosen wie dem Deutschen, die Hand geleitet
hat. Denn derselbe Villard hat auf einem anderen Blatte seines Skizzenbuches (s. die Titelvignette)
einen Reiter, der sein gerade von vorne gesehenes Ross besteigt, gezeichnet und in genauer, peinlicher
Symmetrie Hinterbeine und Schweif des-
selben nachconstruiert. Es ist doch nur ein
Schein, wenn wir aus unserer Aurfassung
heraus meinen, er habe sich derWirklichkeit
näher gehalten, richtiger gesehen; dieser
Scurzo ist nicht minder eine Gedanken-
construction, die nur durch eine andere
Ueberlegung zustande gekommen ist aber
mit unmittelbarer Anschauung eben so viel
und wenig zu thun hat als der zweibeinige
Löwe in seinem naiven und primitiven Ge-
dankenimpressionismus. Kaum ein anderes
Beispiel dürfte lehrreicher sein für das
gegenseitige Verhältnis zwischen Wahr-
nehmung und Gedankenbild in der künst-
lerischen Phantasie des Mittelalters. Und
das gilt nicht nur für das reine Naturobject.
Genau den nämlichen Standpunkt erkennen
wir in dem Verhalten des mittelalterlichen
Künstlers gegenüber dem aus einer ganz an-
deren Anschauung hervorgegangenen und
fremd gewordenen Kunstwerk der Antike;
es ist nach dem vorher Gesagten eigentlich
nur ein äusserliches Moment, wenn Villard
seine merkwürdig umstilisierte Skizze eines
Heidengrabes (abgebildet in diesem Jahr-
buche XVIII, 88) selbst als aus der Erinne-
rung geschöpft bezeichnet.
Auch bei dem Künstler der Renais-
sance ist der erste Entwurf, aus dem das
fertige Kunstwerk schliesslich hervorgeht,
wie ein Tonsatz aus der Keimzelle des musikalischen Motivs, wohl gewöhnlich ein mit grosser Kraft
sich aufdrängendes Gedankenbild. Aber schon diese rasch auf das Papier geworfene Improvisation1 ist
bei dem modernen Zeichner durch seine künstlerische Erziehung, durch die Gewöhnung des Auges
und der Hand an das bewegte und ruhende Naturobject bestimmt, wenn sie nicht gar auf direct fest
gehaltene sinnliche Eindrücke zurückgeht. Die bekannte Anekdote, die sich an Raffaels Madonna
della Seggiola knüpft, ist gewiss erfunden aber innerlich wahr im Sinne jeder echten Anekdote; nach
den schönen Worten über das Wesen der historia altera, die uns jüngst aus Jakob Burckhardts Nach-
lass bekannt geworden sind, ist es unnöthig, darüber Weiteres zu sagen. Wird doch selbst von einem
Fig. 3. Wachsmut von Künzingen.
Aus der Manessischen Liederhandschrift. Nach Kraus.
Ein berühmtes Analogon wären Beethovens Studienhefte.
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