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Julius von Schlosser.
die Anschauung des gewohnten wirklichen Lebens zu leicht sich aufdrängt und ablenkt, nur in einzel-
nen auserwählten Werken gewähren kann. Der Historiker und der Psycholog werden das constatieren
dürfen, ohne damit irgendwelche Waffen für das Arsenal einer dogmatischen Aesthetik zu bereiten; und
man schreibt deren heute realistische, wie vor Jahrzehnten idealistische. Im Banne der Autorität, unter
der Herrschaft des Gedankenbildes, hat das Mittelalter eben so grosse, erhabene und anmuthige Werke
geschaffen wie die neuere Kunst mit ihrem allmälig die gesammte Natur umfassenden Streben. Die
Kathedrale von Chartres ist sicher keine geringere Schöpfung als Michelangelos Mediceerkapelle, wenn
es auch für uns Moderne noch schwieriger geworden ist, den richtigen Standpunkt für jenes Werk
einer unter gewaltigen künstlerischen und religiösen Impulsen schaffenden Collectivität zu finden als
für die tiefe Einsamkeit des genialen Individuums.
Julius von Schlosser.
die Anschauung des gewohnten wirklichen Lebens zu leicht sich aufdrängt und ablenkt, nur in einzel-
nen auserwählten Werken gewähren kann. Der Historiker und der Psycholog werden das constatieren
dürfen, ohne damit irgendwelche Waffen für das Arsenal einer dogmatischen Aesthetik zu bereiten; und
man schreibt deren heute realistische, wie vor Jahrzehnten idealistische. Im Banne der Autorität, unter
der Herrschaft des Gedankenbildes, hat das Mittelalter eben so grosse, erhabene und anmuthige Werke
geschaffen wie die neuere Kunst mit ihrem allmälig die gesammte Natur umfassenden Streben. Die
Kathedrale von Chartres ist sicher keine geringere Schöpfung als Michelangelos Mediceerkapelle, wenn
es auch für uns Moderne noch schwieriger geworden ist, den richtigen Standpunkt für jenes Werk
einer unter gewaltigen künstlerischen und religiösen Impulsen schaffenden Collectivität zu finden als
für die tiefe Einsamkeit des genialen Individuums.