Zur Kenntnis der künstlerischen Ueberlieferung im späten Mittelalter.
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nungen (designamenta) von dessen Hand erwähnt. Auf venerischem Boden, in der Heimat Pisanellos,
hat dergleichen freilich einen besonderen Sinn; immerhin wird es sich hier eher um ein Vorlagenbuch
wie das später zu erwähnende in Wien, wenn nicht gar um einen illustrierten Physiologus gehandelt
haben. Das ist auch natürlich, denn das Skizzenbuch kann noch nicht den Zweck haben, Studien nach
der Natur aufzunehmen und festzuhalten; das erkennen wir gleich an den beiden noch erhaltenen Denk-
mälern dieser Art, dem neuerdings von Neuwirth veröffentlichten »Entwurfbuch« des herzoglichen
Museums in Braunschweig, das zweifellos einem
böhmischen Maler aus dem Kreise König Wen-
zels angehört, und dem vielleicht etwas späte-
ren, schon erwähnten des Jacques Daliwe in
Berlin.1 Ausgesprochen mittelalterlichen Cha-
rakter trägt aber das berühmteste und älteste
von allen, dasjenige des Villard de Honnecourt.
Es ist nicht blos ein Zeichenbuch zu eigenem
Gebrauch sondern, was nicht immer genügend
erkannt und betont wird, ebensowohl ein
Musterbuch, ein Vermächtnis an Schüler und
Nachstrebende und ein wichtiges Document der
künstlerischen Lehre des Mittelalters. Das spricht
Villard in der Vorrede mit klaren Worten aus:
»Wilars de Honecort vous salue et si proie
(prie) ä tos ceus qui de ces engiens ouverront,
con trovera en cest livre qu'il proient (prient)
por s'arme (äme) etjuü_iiir_s£iviengne de lui.
Car en cest livre pult on trover grand con-
sel de le grant force de maconerie et des en-
giens de carpenterie, et si troverez le force de
le portraiture, les frais ensi come Ii ars de
iometrie le command et ensaigne.« Die An-
weisungen, die der Architekt von Cambray sei-
nen Entwürfen beigibt, sind nicht selten gerade-
wegs an einen Leser und Benützer gerichtet (so
pl. XII in der Ausgabe von Lassus und Durand: »Ci poies vos trover les agies (= figures) des XII
apostles en seant«, Zeichnung des Uhrgehäuses pl. XXXIII, Lampe u. s. w.). Das Schwergewicht dieser
Kunstlehre liegt in den Blättern, die, mit fol. XXXIV beginnend, die Portraiture behandeln; der Aus-
druck ist natürlich im mittelalterlichen Sinne aufzufassen. Es ist recht aus dem Wesen des gothischen
Architekten heraus gedacht, wenn er darin lehrt, die menschliche Gestalt aus geometrischen Figuren zu
construieren. Er ist also in gewissem Sinne ein Vorläufer Dürers und Leonardos, die sich seiner nicht zu
schämen brauchen; denn er ist eine höchst vielseitige Natur, Baumeister und Ingenieur, schon auf die
antiken Reste aufmerksam, und vor Allem ein Zeichner voll feinen, strengen Liniengefühls. Seine Por-
traiture ist im Grunde der naive Versuch einer Proportionslehre, freilich durchaus im Geiste des Mittel-
alters und eben darum so merkwürdig durch ihren vollständigen Verzicht auf lebendige Anschauung
und anatomische Kenntnis des Körpers (siehe Fig. 9 und die Schlussvignette).
Eigentliche Musterbücher, jedoch für die Bedürfnisse von Buchmalern bestimmt, hat schon Watten-
bach in seinem Schriftwesen des Mittelalters (S. 368) namhaft gemacht. Die Gattung setzt sich dann
F'ig. 10. Aus dem Musterbuche des Stephan von Urach in München.
1 Von dem angeblichen Skizzenbuche des Giusto von Padua wird im folgenden Aufsatz die Rede sein. Ein »Entwurf-
buch« wird im Nachlasse eines alten Wiener Malers Kaspar Dunkelsteincr 1425 aufgeführt (Berichte des Alterthumsvcreines
in Wien III, 248, Beilage, XIV). Ein Skizzenbüchlein sind natürlich auch »die certe tavolette«, auf die Dante, in wehmuths-
voller Erinnerung an die todte Beatrice, die Figur eines Engels zeichnet (Vita nuova).
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nungen (designamenta) von dessen Hand erwähnt. Auf venerischem Boden, in der Heimat Pisanellos,
hat dergleichen freilich einen besonderen Sinn; immerhin wird es sich hier eher um ein Vorlagenbuch
wie das später zu erwähnende in Wien, wenn nicht gar um einen illustrierten Physiologus gehandelt
haben. Das ist auch natürlich, denn das Skizzenbuch kann noch nicht den Zweck haben, Studien nach
der Natur aufzunehmen und festzuhalten; das erkennen wir gleich an den beiden noch erhaltenen Denk-
mälern dieser Art, dem neuerdings von Neuwirth veröffentlichten »Entwurfbuch« des herzoglichen
Museums in Braunschweig, das zweifellos einem
böhmischen Maler aus dem Kreise König Wen-
zels angehört, und dem vielleicht etwas späte-
ren, schon erwähnten des Jacques Daliwe in
Berlin.1 Ausgesprochen mittelalterlichen Cha-
rakter trägt aber das berühmteste und älteste
von allen, dasjenige des Villard de Honnecourt.
Es ist nicht blos ein Zeichenbuch zu eigenem
Gebrauch sondern, was nicht immer genügend
erkannt und betont wird, ebensowohl ein
Musterbuch, ein Vermächtnis an Schüler und
Nachstrebende und ein wichtiges Document der
künstlerischen Lehre des Mittelalters. Das spricht
Villard in der Vorrede mit klaren Worten aus:
»Wilars de Honecort vous salue et si proie
(prie) ä tos ceus qui de ces engiens ouverront,
con trovera en cest livre qu'il proient (prient)
por s'arme (äme) etjuü_iiir_s£iviengne de lui.
Car en cest livre pult on trover grand con-
sel de le grant force de maconerie et des en-
giens de carpenterie, et si troverez le force de
le portraiture, les frais ensi come Ii ars de
iometrie le command et ensaigne.« Die An-
weisungen, die der Architekt von Cambray sei-
nen Entwürfen beigibt, sind nicht selten gerade-
wegs an einen Leser und Benützer gerichtet (so
pl. XII in der Ausgabe von Lassus und Durand: »Ci poies vos trover les agies (= figures) des XII
apostles en seant«, Zeichnung des Uhrgehäuses pl. XXXIII, Lampe u. s. w.). Das Schwergewicht dieser
Kunstlehre liegt in den Blättern, die, mit fol. XXXIV beginnend, die Portraiture behandeln; der Aus-
druck ist natürlich im mittelalterlichen Sinne aufzufassen. Es ist recht aus dem Wesen des gothischen
Architekten heraus gedacht, wenn er darin lehrt, die menschliche Gestalt aus geometrischen Figuren zu
construieren. Er ist also in gewissem Sinne ein Vorläufer Dürers und Leonardos, die sich seiner nicht zu
schämen brauchen; denn er ist eine höchst vielseitige Natur, Baumeister und Ingenieur, schon auf die
antiken Reste aufmerksam, und vor Allem ein Zeichner voll feinen, strengen Liniengefühls. Seine Por-
traiture ist im Grunde der naive Versuch einer Proportionslehre, freilich durchaus im Geiste des Mittel-
alters und eben darum so merkwürdig durch ihren vollständigen Verzicht auf lebendige Anschauung
und anatomische Kenntnis des Körpers (siehe Fig. 9 und die Schlussvignette).
Eigentliche Musterbücher, jedoch für die Bedürfnisse von Buchmalern bestimmt, hat schon Watten-
bach in seinem Schriftwesen des Mittelalters (S. 368) namhaft gemacht. Die Gattung setzt sich dann
F'ig. 10. Aus dem Musterbuche des Stephan von Urach in München.
1 Von dem angeblichen Skizzenbuche des Giusto von Padua wird im folgenden Aufsatz die Rede sein. Ein »Entwurf-
buch« wird im Nachlasse eines alten Wiener Malers Kaspar Dunkelsteincr 1425 aufgeführt (Berichte des Alterthumsvcreines
in Wien III, 248, Beilage, XIV). Ein Skizzenbüchlein sind natürlich auch »die certe tavolette«, auf die Dante, in wehmuths-
voller Erinnerung an die todte Beatrice, die Figur eines Engels zeichnet (Vita nuova).