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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0306
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Max Dvofäk.

tiven Darstellungen verkörpert. Es wird uns das Leben in der Bauernhütte, auf dem Felde, im Walde
vorgeführt, dann eine glänzende Jagdgesellschaft, die heimatlichen Blumen und Tiere, die charakte-
ristischen Erscheinungen der Jahreszeiten. Selbst eine Schneelandschaft wagte einer der Brüder zu
malen, ein unerhörtes Wagnis zu jener Zeit. Doch nicht nur der Versuch, die ganze Poesie der wilden
und gepflegten Natur malerisch wiederzugeben, ist es, der die Handschrift von Chantilly als einen
Grenzstein in der Geschichte der Malerei erscheinen lassen könnte; noch weit wichtiger ist es, daß
ihre Schöpfer für diese Mannigfaltigkeit überall den naturtreuen, fast wissenschaftlich-illustrativen
Ausdruck gefunden haben.

Ebenso bewunderungswürdig wie diese gegenständliche Treue sind die Beobachtungen der Luft-
stimmung und Beleuchtung in der Landschaft, welche die Brüder von Limburg in ihren Miniaturen
darzustellen wußten oder es wenigstens versuchten. Man beachte z. B., wie sie die Mittelgrundsfiguren
in der auf Taf. XXVIII abgebildeten Miniatur einfach als schwarze Silhouetten malten, wie sie dem Be-
schauer in der Entfernung an einem klaren Herbsttage erscheinen mußten. Wie in der-Anbetung der
heil, drei Könige den Abend, so versuchen sie in einer anderen Miniatur den Morgen, dann wieder einen
trüben Herbsttag und auf S. 142' sogar eine Nachtlandschaft zu malen oder dem Beschauer einmal
eine Frühlingsstimmung, das anderemal eine Herbstbeleuchtung zu zeigen, wobei sie stets das Kolorit
meisterhaft diesen Aufgaben anzupassen wußten. Besonders gut ist ihnen gelungen, in dem Märzbilde
die zarten Töne des Vorfrühlings, in der Dezemberlandschaft die klare Winterluftstimmung wieder-
zugeben. Man könnte glauben, daß der Malerei damals, so wie der gegenständliche Reichtum der
Welt, auch die ganze Pracht des Firmamentes, der ewige Wechsel der Atmosphäre und Beleuchtung
und somit auch die ganze und ewige Poesie des Weltalls erschlossen worden wäre. Es sind jedoch
nur einzelne Beobachtungen, die sie in dieser Richtung gemacht haben und die nicht auf ein ziel-
bewußtes Streben nach Lösung ähnlicher Aufgaben sondern auf den naiv-konsequenten Naturalismus
zurückzuführen sind, mit dem sie manchmal die Gegenstände auch mit den von einer momentanen
Erscheinung abhängigen Eigenschaften ausgestattet haben.

Das Merkwürdigste und kunstgeschichtlich Wichtigste sind aber die Darstellungen der Burgen und
Schlösser, welche die Illuminatoren des Gebetbuches von Chantilly in einzelnen Kalenderbildern unter-
gebracht haben und die wir zum Teil nach erhaltenen Resten oder späteren Abbildungen noch bestimmen
können (Fig. 54, Taf. XXVIII). Alle älteren architektonischen Darstellungen waren entweder geo-
metrische Skizzen und Durchschnitte oder gaben die Bauten in einer andeutenden abgekürzten Weise
wieder, die, eine Folge eines mangelhaften perspektivischen Systems und der damit zusammenhängenden
ungenauen Abschätzung der Größenverhältnisse, der ganzen antiken und mittelalterlichen Malerei an-
haftet. In den Burgen des Gebetbuches von Chantilly finden wir dagegen Darstellungen von Bauten,
welchen nebst malerischen Qualitäten auch eine sachlich und perspektivisch richtige Aufnahme der
Wirklichkeit zugrunde liegt. Von dem unteren Teile der Miniaturen getrennt, entsprechen
diese Schloßveduten allen allgemeinen Anforderungen, die wir an eine malerische
Wiedergabe einer Architektur zu stellen pflegen. Vergegenwärtigen wir uns jedoch die ent-
wicklungsgeschichtliche Bedeutung dieser Tatsache. Während in den Werken der gotischen Malerei,
auch anderweitige Miniaturen der Brüder von Limburg oder die Bilder Huberts inbegriffen, unter der
Hülle der naturalistischen Darstellung überall das alte gotische Schema, die konventionelle Darstel-
lungsart zutage tritt, ist es unmöglich, diese architektonischen Bilder des Gebetbuches von Chantilly
auf irgendwelche formale Schablone zurückzuführen, sondern der objektive Tatbestand allein, nach
jenen Grundsätzen reproduziert, die wir als das Kriterium einer treuen und wahren Naturwiedergabe
zu betrachten pflegen, bildete die Grundlage dieser Veduten. Doch besteht nicht darin das Wesen
der Neuerungen Jans, das Prinzip des neuen Stiles, das Programm der ganzen folgenden Malerei?

Nichts ist geeigneter, uns ein solches Prinzip in seiner Genesis zu enthüllen, als architek-
tonische Darstellungen. Leute, die mit dem Wesen des künstlerischen Schaffens nicht vertraut sind,
können immerhin vermuten und es auch glaubwürdig erscheinen lassen, daß es stets nur von der Ab-
sicht (Natursinn, Naturfreude) des Künstlers abhing, ob er eine Blüte naturgetreu dargestellt hat oder
 
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