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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0305
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

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hat einen anderen Sinn bekommen, der nicht an eine Kirchenlehre sondern an ein wirkliches oder an-
genommenes psychisches Erlebnis des Stifters oder Beschauers anknüpft. Das ganze Werk gleicht
einem Gebete und darin kündigt sich auch bei Hubert bereits eine neue Epoche an.

Wie weit liegt das aber von den «mönchischen Vorbildern» und «scholastischen Spekulationen».

Der zweite naturalistische Stil. Wenden wir uns noch einmal zu den merkwürdigen Bil-
dern des Gebetbuches von Chantilly.

Wie es in dieser Handschrift Randleistendekorationen gibt, welche mit der stilisierenden mittel-
alterlichen Ornamentik nicht mehr zusammenzuhängen scheinen, — Sträuße von Veilchen, Stiefmütter-
chen und Rittersporn, frei um die Schriftkolumnen verstreut und treu wie in einem modernen botani-
schen Buche nach der Natur gemalt, schmücken den Rand — so gibt es in dem Kodex von Chantilly
auch Miniaturen, die man für ganz frei von jeder mittelalterlichen formalen Überlieferung halten
könnte. Es sind dies in erster Reihe die Kalenderbilder. Nach alter Sitte schmückten die Brüder von
Limburg den Kalender mit Darstellungen verschiedener Monatsbeschäftigungen, bei welchen sie sich
jedoch nicht an die konventionellen Kompositionen hielten sondern Szenen aus dem Leben mit aus-
führlicher Naturtreue dargestellt haben. Am besten sind ihnen dabei Bilder gelungen, in welchen sie
das Landleben schilderten. Wenn der alte Götze, das
plötzliche Erwachen des Natursinnes genannt, wirk-
lich existiert hätte, so müßte man diese Bauernbilder
als eine seiner ersten und weittragendsten Taten be-
trachten. Auch in der Trecentomalerei gibt es groß
angelegte und sorgfältig durchgeführte Landschaften,
doch nie eine so eingehende Schilderung einer be-
stimmten landschaftlichen Szenerie wie bei den Kalen-
derbildern von Chantilly. Suchten in der vorangehenden
Kunst die Maler ihrer Beobachtung und Erinnerung
nur das zu entnehmen, was an den alten landschaft-
lichen Schablonen angebracht werden konnte, so tritt
uns bei den Bauernstücken der Brüder von Limburg

. . Fig. 53. Hans Holbein, Zeichnung nach der Grabesfigur

alles entgegen, was an einer bestimmten Landschaft . „ u D . „. , .„.»

0 0 ' des Herzogs von Berry in Bourges (Ausschnitt),

in der Natur zu beobachten war. Nichts vergaß der Museum von Basel

Maler darzustellen. Genau werden wir über die Boden-
beschaffenheit des Feldes unterrichtet, auf welches der Landwirt die Saat auswirft, und selbst die Fuß-
spuren werden angedeutet, die der schwere Schritt des Bauern im weichen Lehm zurückgelassen hat
(Taf. XXVIII). Vögel kommen geflogen, um diesen Spuren zu folgen, und auch der Popanz wird uns
vorgeführt, der in einer jungen Saat mit einem Bogen in der Hand aufgestellt wurde, ungebetene
Vogelgäste zu verscheuchen. Dann folgt ein uns so bekannt und traut vorkommender, von Weiden
beschatteter Fluß, über den ein Kahn gleitet und in dem Frauen Wäsche schwemmen und klopfen.
Auf dem kunstvoll angedämmten Ufer gehen Stutzer und Edelleute spazieren, auch eine Volks-
figur sieht man da und alles das spiegelt sich in dem klaren Wasser. Mit derselben Treue wie die
landschaftliche Szenerie malte der Künstler auch die zwei Hauptfiguren des Bildes, zwei Bauern,
welche die Feldarbeit verrichten; selbst die Löcher in ihren Kleidern hat er nicht vergessen und das
schwere Pferd, auf dem der eine Landmann sitzt, ist ein Meisterstück realistischer Tiermalerei, mit
dem die berühmten Pferdebilder Pisanellos an Lebenswahrheit kaum verglichen werden können. Man
müßte Bild für Bild beschreiben, um die ganze Fülle von Naturbeobachtungen anzudeuten, welche die
Miniaturen der Brüder von Limburg auszeichnen; es ist, als ob die ganze Naturwelt des Nordens auf
einmal in die Kunst in liebevolltreuen Darstellungen eingeführt worden wäre. Die Freude an allen Er-
scheinungen der uns umgebenden Natur bis zu der kleinsten und unscheinbarsten Blüte hat, wie es
scheint, stets wie heute die Menschen des Nordens von jenen des Südens unterschieden und in dem

Gebetbuche von Chantilly finden wir überall diese Freude in anscheinend vollkommen treuen und objek-

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