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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0304
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Max Dvofak.

Als einen nach den Grundlagen seiner Kunst mittelalterlich-gotischen Künstler
haben wir an dem Genter Altare Hubert kennen gelernt und eine Untersuchung der Ent-
wicklung der gotischen Malerei im XIV. Jahrhundert nördlich der Alpen zeigte uns als
die letzte Phase dieser Entwicklung denselben Stil, welchen wir als den Huberts fest-
gestellt haben. So reiht sich an den Monumentenbefund der geschichtliche Zusammen-
hang als der letzte und endgültige Beweis für die Richtigkeit unserer Stilanalyse.

Wenn wir jedoch auf die geschilderte Entwicklung zurückblicken, so wird es uns auch leicht
werden, die dem berühmten Schreine zugrunde liegende inhaltliche Tendenz auf ihre historische Ent-
stellung zurückzuführen. Wir konnten beobachten, wie jener Stil, der als das malerische Vermächtnis
der Antike an die Zukunft im Trecento in die Kunst des Abendlandes allgemein neu eingeführt wor-
den war, durch andere Normen der Naturtreue langsam durchdrungen wurde, durch Normen, in welchen
sich ein Bestreben geltend macht, die Darstellung der Objekte individueller zu gestalten, als es bisher, als
es in der ganzen vorangehenden Kunst der Fall gewesen ist. Doch ist das nicht eine Analogie zu dem,
was sich in den religiösen Anschauungen, in der ganzen geistigen Kultur vollzogen hat? In den senti-
mentalen Erzählungen der giottesken Literatur und Kunst sprach trotz der psychologischen Umdeutung
noch die biblische oder legendäre Erzählung das entscheidende Wort. Die Leiden Christi und die
Schmerzen und Freuden der Madonna waren noch eine Offenbarung, aus der die Menschen «Mut
und Geduld» lernen sollten. In ähnlicher Weise hatte der Erotismus Petrarcas, der Rationalismus
Ockams, die politische Schwärmerei Colas di Rienzo einen literarischen Ursprung.

In den kulturellen Zentren des Nordens bekamen aber in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhun-
derts diese evangelischen und literarischen Werke eine neue Bedeutung. Wie man heute die geistige
Bildung unserer Zeit schlecht nach dem beurteilen würde, was in den Gedichten gesungen oder in den
Schulen gelesen oder gelehrt wird, so würde man einen falschen Begriff von der geistigen Entwicklung
des späten Mittelalters bekommen, wenn man sie nach den offiziellen schönen und literarischen Wer-
ken bemessen würde. Nicht die Gedichte und Romane, die in den Handbüchern der Literaturgeschichte
stehen, sind der richtige Maßstab für die Höhe der geistigen Kultur jener Periode sondern die theolo-
gisch-spekulative Literatur. Bocaccio und Chaucer sind nicht die führenden, die Zukunft bestimmenden
Geister, wie uns die Herolde der Renaissance verkünden, sondern Peter d'Ailly und Wiclif, dessen geniale
Prädestinationslehre als die größte Tat des Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Während die «Hundert
Lehren Otheas» ein Jahrhundert später zur Pöbelliteratur herabgesunken sind und bald darauf nicht
mehr verstanden wurden, erfüllen uns die Ideen der Epistola diaboli Leviathan oder des Trialogus noch
heute mit Bewunderung. Es waltet hier dasselbe Gesetz, welches uns auch die Bilder Jans ohne histo-
rische Kenntnisse noch heute bewunderungswürdig erscheinen läßt. Es ist nicht mehr ein Ringen um
die Form, welches jene Werke geschaffen hat, sondern ein Ringen um die innere Wahrhaftigkeit. Weder
das angesammelte abstrakte tote Wissen, wie im frühen Mittelalter, noch die formale Wahrheit, wie
im Ducento, noch das gegebene Sentiment, wie im Trecento, sind die Quellen und Gesetze des Denkens
und Fühlens mehr sondern die individuell gewonnene Überzeugung und Empfindung bildet die Norm
aller Wahrhaftigkeit. «In der Kirche der menschlichen Seele liegt die Wahrheit», sagte ein Schrift-
steller dieser Zeit, während die Alten «nur die Gesetze Justinians und die Dekrete Gratians kannten».
Auf dieser neuen Auffassung der menschlichen Erkenntnis, die ebenso neu der Antike als dem Mittel-
alter gegenüber gewesen ist, die jedoch nicht plötzlich gefunden wurde sondern sich langsam aus dem
mittelalterlichen Kampfe zwischen dem Dogma und der Erfahrung, zwischen den Lettern und dem
Leben, zwischen der alten Erbschaft und neuem Suchen herausbildete, beruht wie auf dem neuen Na-
turalismus in der Kunst und nicht auf einer abstrakten humanistischen «Entdeckung des Individuums»
sowohl die Renaissance als auch die Reformation, sowohl die Aufklärung als auch die moderne Wissen-
schaft und die ganze geistige Kultur bis auf unsere Tage. Es ist noch unsere Auffassung.

Bald nach ihrer Entstehung mußte diese Auffassung das ganze Leben und hiermit auch den In-
halt der Kunstwerke durchdringen. Noch thront Gott Vater am Genter Altare in statuenhafter Starre,
noch sind die Heiligenchöre nach der alten dogmatischen Einteilung geordnet; doch das ganze Werk
 
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