Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

DOI Heft:
I. Theil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0308
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
302

Max Dvofäk.

Mädchen treffend mit der Zeichenfeder oder dem Pinsel festzuhalten und man hätte gewiß auch Bauten
und Landschaften treu nach der Natur gemalt, wenn es nur vom Wollen abhängig gewesen wäre.
Einen reichgegliederten Bau oder eine Landschaft mit wissenschaftlicher Genauigkeit darzustellen,
dazu bedarf es mehr als nur eines guten Gedächtnisses und einer flinken Hand. Dazu bedarf es einer
sicheren Beherrschung aller Aufgaben, die dadurch entstehen, daß ein dreidimensionales kompliziertes
Raumgebilde in exakter Weise in ein Flächenbild umgesetzt werden soll, was nicht durch eine neue
künstlerische Absicht allein, sondern nur auf Grund einer langen Erfahrung und einer langen Entwick-
lung der Darstellungsprobleme durchgeführt werden kann.

Diese Entwicklung konnte sich jedoch erst vollziehen, nachdem die spätantike Auffassung des
Bildes als eines geschlossenen Raumausschnittes wieder neu in die Malerei eingeführt worden war. Denn
so lange das nicht der Fall gewesen ist, gab es keine Veranlassung, die frühmittelalterlichen Andeutungen
durch eine einheitliche und objektive Wiedergabe der Wirklichkeit zu ersetzen. Nachdem aber die spät-
antike Raumdarstellung und mit ihr auch das spätantike perspektivische System der Malerei des Abend-
landes wieder gewonnen worden war, mußte man notwendigerweise dazu gelangen, die Probleme
einer exakten malerischen Darstellung der Raum- und Größenrelationen wieder aufzunehmen und sie
weiter zu entwickeln. Das geschah sowohl in Italien als auch im Norden. In Italien hat man im XIV.
Jahrhundert die perspektivischen Systeme der Antike weiter ausgestaltet; im Norden übernahm man,
wie wir hörten, die Ergebnisse dieser Ausgestaltung, ohne sie jedoch in derselben Weise zu verwenden
wie in Italien. Die Straße in der Kreuztragung aus dem Gebetbuche von Chantilly (Fig. 42) ist nicht
mehr wie in ihrem italienischen Vorbilde nur bestimmt, als eine Kulisse die Raumillusion zu erhöhen,
sondern soll zugleich ein exaktes Bild einer wirklichen Straße sein, wie jene Ornamente an der Fassade
von Notre Dame plastisch neue Wiederholungen von Olivenzweigen sein sollten. Die antik-byzanti-
nische Erbschaft an perspektivischen Errungenschaften wurde in die gotische Kunst eingefügt und,
nachdem sich diese Rezeption vollzogen hatte, der großen naturalistischen Strömung untergeordnet,
die wir im ganzen Verlaufe der gotischen Kunst beobachten können.

Man hat manchmal die Frage aufgeworfen, ob Jan van Eyck die perspektivische Theorie Brunel-
leschis gekannt hat. Man müßte dieselbe Frage auch auf die Brüder von Limburg ausdehnen, bei wel-
chen von einer Abhängigkeit von Brunelleschi keine Rede sein kann. Führt man die Uberwindung der
konventionellen Verkürzungen und Maßverhältnisse in der Raumdarstellung nur auf die Entdeckung
der perspektivischen Gesetze Brunelleschis zurück, so bedenkt man nicht, daß auf Grund solcher Ge-
setze unmittelbar nur solche Bilder gemalt werden können, wie sie Brunelleschi malte, halbgeometri-
sche Stadtveduten, daß jedoch die wichtigsten und nächstliegenden Aufgaben, welche in der Regel in
einem Bilde zu lösen sind und in welchen vor allem das mittelalterliche traditionelle System über-
wunden werden mußte, weniger auf Grund von Gesetzen und Vorschriften als durch allmähliche ma-
lerische Erfahrung gelöst werden können. Wie soll die schönste Berechnung dazu verhelfen, das
Augenpaar eines abgewendeten Kopfes in richtiger Verkürzung darzustellen? Auch bei Vitruv finden
wir perspektivische Gesetze erörtert, warum bediente man sich ihrer nicht in der antiken Malerei bis
zu den letzten Konsequenzen? Erst nachdem die wichtigsten perspektivischen Probleme malerisch
exakt bezwungen waren, konnte man mit Nutzen wieder die Entdeckung machen, daß es in diesen
Lösungen eine Gesetzmäßigkeit gibt. Daß jedoch jene Probleme exakt und neu gelöst wurden, ist auf
die Entwicklung der gotischen Kunst zurückzuführen. Es kommen dabei zwei Dinge in Betracht.

Erstens das Wesen des gotischen Naturalismus. Vom Anfang an können wir in der gotischen
Kunst das Bestreben beobachten, die künstlerische Wahrheit nicht nur in den Grenzen der geläufigen
künstlerischen Probleme zu erreichen sondern sie darüber hinaus bis zur objektiven Wiedergabe aller
darstellbaren Dinge auszudehnen. So unübertrefflich groß auch die Fortschritte der naturalistischen
Auffassung in der Antike gewesen sind, so hielten sie sich doch stets im Rahmen bestimmter künstleri-
scher Probleme und Formen, die so einflußreich gewesen sind, daß man sich ihrer auch da bediente, wo,
wie z. B. zu wissenschaftlichen Zwecken, eine einfache und präzise Wiedergabe einer sachlichen Wahr-
nehmung angebracht gewesen wäre. Die Kalenderbilder waren Personifikationen, die Illustrationen zu
 
Annotationen