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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0309
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Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck.

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einem medizinischen Buche, wie beim Pariser Nikander weitschweifende Gemälde und trotz dem stoff-
lichen Reichtum der nachaugusteischen Kunst war doch bis zum Ende der Antike der Naturnachahmung
durch bestimmte künstlerische Themen eine Grenze gezogen. Man konnte eine wundervolle Landschaft
mit allen Luft- und Lichtstimmungen malen; doch nur ausnahmsweise war man bemüht, einen Gegen-
stand mit wissenschaftlicher Treue wiederzugeben. In der gotischen Kunst kann man dagegen von
Anfang an das Bestreben beobachten, nicht nur die allgemeinen künstlerischen Probleme in einem
engeren Anschlüsse an die natürliche Erscheinung zu lösen sondern auch jeden Gegenstand bis zur
kleinsten Blüte, bis zum geringsten Insekt mit möglichst großer Genauigkeit nach der Natur zu kopie-
ren, unbekümmert, ob es das eigentliche künstlerische Problem erforderte oder nicht. In der antiken
Kunst stellt sich ein immitativer Naturalismus erst ein, als die Probleme der Wiedergabe der plasti-
schen Erscheinung vollkommen gelöst waren; in der gotischen Kunst kann man dagegen Versuche,
eine Maiglöckchenblüte, einen Schmetterling genau nachzumalen, bereits in einer Zeit beobachten, wo
der Maler eine Baumkrone nicht anders als durch drei Blätter darzustellen wußte. Man könnte diese
Tendenz in verschiedener Weise erklären. Man könnte daran denken, daß das Bestreben nach Indivi-
dualisierung, welches seit jeher den Okzident von dem Orient unterschieden hat, bei den neuen Kultur-
völkern des Westens mit neuer Stärke hervorgetreten ist, wie es ja auch für alle Zukunft eine Eigen-
tümlichkeit ihrer Kunst werden sollte. Man könnte vermuten, daß dieses erhöhte und verallgemeinerte
Erfordernis der exakten Naturtreue des Kunstwerkes sich als ein notwendiges Evolutionsstadium ein-
stellen mußte, als die auf der antiken Naturdarstellung beruhenden Typen überwunden werden sollten,
oder daß sich darin die nie dagewesene Erweiterung der Darstellungsstoffe geltend macht, die für die
gotische Kunst charakteristisch ist und die, nachdem sie «die ganze Welt zu Ehren Gottes dem mensch-
lichen Auge erschließen wollte», auch dem Naturalismus in der bildenden Kunst einerseits ein umfas-
senderes, andererseits ein viel strengeres Programm geben mußte. «Es sollte nicht in Erzeugnissen
der menschlichen Hand Gott gepriesen werden sondern die Natur selbst sollte sein Werk und seine
Allmacht loben.» Man könnte schließlich eine Parallele zwischen dem neuen streng immitativen Nach-
ahmen in der Kunst und der neuen Art des exakten Denkens in der Wissenschaft aufstellen. In der
Wissenschaftlichkeit besteht ja überhaupt der wesentliche Unterschied der modernen Kultur von der
antiken und dieses Streben nach einer wissenschaftlich strengen Anschauung und Darstellung kann
man auch in der neuen Kunst der christlichen Periode von Anfang an beobachten.

Dazu kommt als zweites Moment die große künstlerische Produktion der gotischen Zeit, die viel-
leicht nur in dem Kunstschaffen des XIX. Jahrhunderts eine Analogie hat. In tausenden Statuen und in
tausenden Miniaturen und Glasgemälden sammelten die Künstler Beobachtungen und Erinnerungen
an die sie umgebende Welt, als wollten sie ihren ganzen Reichtum an Erscheinungen für künftige Ge-
nerationen aufbewahren, und so konnte es gar nicht anders kommen, als daß nicht nur die alten und
allgemeinen Darstellungsprobleme an bestimmten schematischen Lösungen weiter entwickelt wurden,
sondern daß auch, ähnlich wie später in der japanischen Kunst, ein großer und mannigfaltiger Vorrat
unmittelbarer Naturbeobachtungen gesammelt und damit auch das Vermögen, einzelne Gegenstände bei-
nahe wissenschaftlich treu und genau wiederzugeben, über alle vorangehenden Kunstperioden hinaus
gesteigert wurde. Man lernte einzelne Gegenstände treuer darstellen, als es je früher versucht oder
durchgeführt werden konnte, und als man die Raumprobleme der antiken Malerei neu wieder aufge-
nommen hatte, tat man es sowohl mit der geschilderten Tendenz als mit den auf Grund dieser Ten-
denz nach und nach gewonnenen überlegenen Kunsterfahrungen. So beruht es auf der ganzen Ent-
wicklung der gotischen Kunst, daß man in einer Zeit, in der man sich in Italien noch mit den abstrak-
ten perspektivischen Systemen abmühte, in Frankreich einen großen Bau mit einer Genauigkeit dar-
stellen konnte, von der die vorangehende Kunst keine Ahnung hatte und die das Kriterium der mo-
dernen Kunst im Gegensatze zur Antike geworden ist. Diese Genauigkeit, die mathematischen Gesetzen
entspricht, entspringt nicht einer theoretischen Erwägung sondern ist die Frucht unermüdlicher künst-
lerischer Bemühungen, die wir Schritt für Schritt verfolgen können und welchen es endlich gelungen
ist, das Darstellungsvermögen zu einer Sicherheit und Freiheit zu entwickeln, die es erlaubte, eine
 
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