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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 24.1903

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I. Theil: Abhandlungen
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Dvořák, Max: Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck
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https://doi.org/10.11588/diglit.5914#0310
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3o4

Max Dvorak.

individuelle Erscheinung nach unseren Erfordernissen mit objektiver Treue wieder-
zugeben und an die Stelle der alten Schablonen eine unmittelbare Naturnachahmung
zu setzen.

So ist die Kunst der Illuminatoren des Gebetbuches von Chantilly, einen großen Bau fehlerlos
darzustellen, aus einer allgemeinen großen Entwicklung der naturalistischen Darstellungsmittel ent-
sprungen, aus einer Entwicklung, auf die auch alle übrigen Neuerungen des neuen Stiles und die ganze
Entstehung dieses Stiles überhaupt zurückzuführen sind. Es sei uns erlaubt, noch ein Beispiel dafür
anzuführen. Wie viele vermeintliche Errungenschaften der Renaissance, so ist auch die Sitte, Bildnisse

herstellen zu lassen, welche keine monumentale oder
historische Bedeutung haben sondern nur über die
individuelle Erscheinung einer Persönlichkeit berich-
ten sollen, bereits in der gotischen Kultur und Kunst
am Schlüsse des Trecento allgemein gewesen.1 Man
könnte vermuten, daß die Sitte aus der Freude an
dem Gelingen einer solcher malerischen Berichterstat-
tung entstanden sei. Bei den Bildnissen Beauneveus
mußten wir trotz des frappanten Naturalismus hervor-
heben, daß dieser Naturalismus konventioneller Art
war, wie etwa bei den Porträten der hellenistischen
Epoche, und daß der Künstler über die dargestellte
Persönlichkeit nur im Rahmen eines traditionellen
Typus berichten konnte. Noch mehr tritt diese
schablonenhafte Darstellungsweise in den gemalten
Bildnissen zutage. Man vergleiche z. B. nur das be-
kannte Porträt Johanns des Guten in der Pariser
Nationalbibliothek mit den Bildnissen Karls V. in
der Bibel des Jean de Bandol im Haag oder auf
dem Parament im Louvre — die Köpfe gleichen
sich trotz dem unverkennbaren Streben des Malers,
sie in ihrer ganzen charaktervollen Häßlichkeit treu
darzustellen, so wie die Abwandlungen eines und
desselben Wortes. Vergleichen wir nun damit Bild-
nisse, welche in den ersten Jahrzehnten des XV. Jahr-
hunderts in Frankreich gemalt wurden. Im Louvre
hängt ein kleines merkwürdiges Porträt eines Prinzen aus dem Hause Valois, welches früher als das
Bildnis des Jean Sans Peur, später als ein Werk des XVI. Jahrhunderts bezeichnet wurde.2 Das letztere
ist sicher falsch. Daß der Dargestellte um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts lebte, beweist das
Kostüm, daß das Bild nicht im XVI. Jahrhundert erfunden wurde, der Stil des Bildes (Fig. 55). Den Ge-
wohnheiten der spätgotischen Malerei entspricht das scharfe Profil des Kopfes, welches durch die Stel-
lung der Büste nicht begründet erscheint, wie es bei allen Bildnissen des XIV. Jahrhunderts der Fall
ist und wie wir es noch bei den Gestalten Huberts beobachten konnten, die mangelhafte Verkürzung
des Tisches, auf welchen der Prinz seine Linke stellt, und alle Eigentümlichkeiten der Formengebung,
für die leicht Belege in der französischen Malerei am Anfange des XV. Jahrhunderts gesammelt werden
können. Die Frage, ob das Bild ein Originalwerk ist oder eine der vielen Wiederholungen, die von den
Bildnissen berühmter Persönlichkeiten gemacht werden, dürfte schwer zu entscheiden sein; doch die

Fig. 55. Unbekannter Meister, Bildnis eines Prinzen
aus dem Hause Valois.
Paris, Louvre.

1 Vom Herzog von Orleans wird uns berichtet, daß er ein Zimmer mit Bildnissen aller Frauen hatte, die er je liebte.

2 Es gibt eine Reihe von Stichen, die diesen Kopf als den des Jean Sans Peur bezeichnen, doch sind sie durchwegs
nach dem Bilde verfertigt; dieses stimmt aber nicht mit dem beglaubigten Bildnisse des Herzogs überein.
 
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