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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Editor]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 27.1907-1909

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I. Theil: Abhandlungen
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Gruenwald, Alois: Über einige Werke Michelangelos in ihrem Verhältnisse zur Antike
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https://doi.org/10.11588/diglit.5947#0150
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Alois Grünwald.

Fig. 15. Pariser Narkissos.

Das einzige erhaltene Exemplar der Statue (Fig. 15),1 eine römische Kopistenarbeit aus hadria-
nischer Zeit, zeigt einen Jüngling von etwas hermaphroditischen Formen, der mit übergeschlagenem
rechten Bein, die Hände über den nach links geneigten Kopf gelegt, träumerisch dasteht und sich ernsten
Betrachtungen hinzugeben scheint. Da der Narkissos zum ersten Male in der Sammlung des Kardinals
Mazarin erwähnt wird,2 der bis zu seiner Berufung nach Frankreich (i63g) in Rom weilte und jeden-
falls daselbst den Grund zu seiner Antikensammlung gelegt haben wird, ist der lokale Zusammenhang
mit der ewigen Stadt hergestellt. Uber die Existenz der Statue um 1513 gibt uns Michelangelos Hand-
zeichnung in der Beckerathschen
Sammlung (Fig. 16) unzweifelhaften
Bescheid. Nicht nur die Haltung
stimmt ganz augenfällig mit dem
Narkissos überein — vgl. das Uber-
schlagen des rechten Beines, das
Übereinanderlegen der Arme über
den Kopf, und zwar des linken über
den rechten, die Neigung des Haup-
tes nach der linken Schulter —
auch ein stofflicher Zusammenhang
zwischen beiden Werken scheint vor-
handen. Wenn die antike Schöpfung
auch keinen Sklaven darstellt, so
legte doch die sinnende Haltung,
der trauernde Gesichtsausdruck, vor
allem aber die innigste Verbindung
mit einem kräftigen Baumstamm, der
sogar durch kleine Stützen mit den
Armen der Statue verknüpft ist, den
Gedanken einer Fesselung nahe.
Nicht daß Michelangelo die Be-
deutung der Stütze mißverstanden
hätte, jedenfalls aber stellte sich
bei seiner Arbeit am Entwurf die
Figur des Louvre unwillkürlich in
seiner Phantasie ein.

Als gedankenloser Kopist hat
er sie nicht herübergenommen. Der
hermaphroditische Charakter ist geschwunden: der weiche, ja weichliche Linienfluß, der jedes kräf-
tige Hervortreten vermeidet, jeder energischen Bewegung, jeder eckigen Bildung sorgfältig aus dem
Wege geht, die schmale Brust und das breite Becken, der weiblich schmachtende Gesichtsausdruck,
die wallenden blumendurchflochtenen Locken und der lange schlanke Hals. Die anmutige Neigung des
Hauptes gegen die linke Schulter erscheint abgeschwächt, ja selbst der Kopf ist — eine zierliche Bil-
dung nicht aufkommen zu lassen — größer gebildet. Eine herkulische Gestalt ist aus der Figur ge-
worden. Die Muskeln schwellen und zerlegen die Umrißlinie in eine Reihe äußerst markanter Kurven,

Fig. 16. Figur
der Beckerathschen Zeichnung.

1 Eine verwandte Statue der Uffizien (Reinach I, 38o—386) sowie ähnliche Darstellungen auf Sarkophagen (Visconti,
Musee Pie- Clementin, tome VII, pl. l3, l3a) können wegen gänzlich anderer Beinstellung für Michelangelo nicht in Betracht
kommen.

2 Collection du Cardinal Mazarin, «Inventaire de tous les meubles du cardinal Mazarin», verfaßt im Jahre 1650, ver-
öffentlicht in London 1861, p. 356, Nr. 3o: Un hermaphrodite nud, ayant les mains liees par dessus sa teste, et un tronc
d'arbre, haut de sept palmes et demie, ou environ.
 
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