Über einige Werke Michelangelos in ihrem Verhältnisse zur Antike.
kel zu kreuzen, wodurch die ganze Ponderation verändert wird. Nicht genug damit, wird im Gegen-
satz zu dem vortretenden linken Knie und den ungefähr mit dem Reliefgrund parallelen Bauchpartien
die linke Schulter mehr zurückgesetzt als die rechte, so daß der ganze Körper — neben der Bie-
gung nach außen — gleichzeitig von den Knien zum Becken und von da zu den Schultern eine einheit-
liche Drehung um die Vertikalachse beschreibt.1 Das sind Tendenzen, welche Ghiberti geradezu als Vor-
läufer der großen Meister des folgenden Jahrhunderts erscheinen lassen. Und das im engen Rahmen
eines Reliefs! Ob hierin ein Fehler zu erblicken sei, mochte uns recht fraglich erscheinen. Wenn Dona-
Fig. 3o. Eckfigur einer römischen Fig. 3l. Aus der Geschichte Josefs
Aschenurne im Museum zu Este an Ghibertis parad;esestür>
(nach Ursatus).
tello an die strengere Technik antiker Gemmen anknüpfte,* während Ghiberti durch sein ganzes künst-
lerisches Naturell zum malerischen Stil hellenistischer Reliefs gedrängt wurde, wo seine Meisterschaft
im Bronzeguß zu voller Geltung kam, so vermögen wir aus diesem Unterschiede kein Werturteil abzu-
leiten. Am allerwenigsten halten wir es für angebracht, Kunstprinzipien unserer Tage ohne weiteres als
Maßstab für frühere Zeiten zu verwerten. Daß Donatello endlich die Würdigung fand, die ihm frühere
Generationen ungerecht versagten, ist gewiß mit Freuden zu begrüßen; bedauerlich bleibt nur, daß dies
auf Kosten seines großen Zeitgenossen geschah, von dem doch ein Michelangelo gesagt haben soll, seine
zweite Bronzetür sei würdig, die Pforten des Paradieses zu schmücken. Wäre die moderne Kunst-
1 Vgl. hierüber den folgenden Aufsatz über die Schicksale des Ilioneus.
2 Vgl. Wickhoff, Die Antike im Bildungsgange Michelangelos, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Ge-
schichtsforschung III (1882), S. 410 f.
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kel zu kreuzen, wodurch die ganze Ponderation verändert wird. Nicht genug damit, wird im Gegen-
satz zu dem vortretenden linken Knie und den ungefähr mit dem Reliefgrund parallelen Bauchpartien
die linke Schulter mehr zurückgesetzt als die rechte, so daß der ganze Körper — neben der Bie-
gung nach außen — gleichzeitig von den Knien zum Becken und von da zu den Schultern eine einheit-
liche Drehung um die Vertikalachse beschreibt.1 Das sind Tendenzen, welche Ghiberti geradezu als Vor-
läufer der großen Meister des folgenden Jahrhunderts erscheinen lassen. Und das im engen Rahmen
eines Reliefs! Ob hierin ein Fehler zu erblicken sei, mochte uns recht fraglich erscheinen. Wenn Dona-
Fig. 3o. Eckfigur einer römischen Fig. 3l. Aus der Geschichte Josefs
Aschenurne im Museum zu Este an Ghibertis parad;esestür>
(nach Ursatus).
tello an die strengere Technik antiker Gemmen anknüpfte,* während Ghiberti durch sein ganzes künst-
lerisches Naturell zum malerischen Stil hellenistischer Reliefs gedrängt wurde, wo seine Meisterschaft
im Bronzeguß zu voller Geltung kam, so vermögen wir aus diesem Unterschiede kein Werturteil abzu-
leiten. Am allerwenigsten halten wir es für angebracht, Kunstprinzipien unserer Tage ohne weiteres als
Maßstab für frühere Zeiten zu verwerten. Daß Donatello endlich die Würdigung fand, die ihm frühere
Generationen ungerecht versagten, ist gewiß mit Freuden zu begrüßen; bedauerlich bleibt nur, daß dies
auf Kosten seines großen Zeitgenossen geschah, von dem doch ein Michelangelo gesagt haben soll, seine
zweite Bronzetür sei würdig, die Pforten des Paradieses zu schmücken. Wäre die moderne Kunst-
1 Vgl. hierüber den folgenden Aufsatz über die Schicksale des Ilioneus.
2 Vgl. Wickhoff, Die Antike im Bildungsgange Michelangelos, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Ge-
schichtsforschung III (1882), S. 410 f.
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