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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 32.1915

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Sitte, Heinrich: Ein vergessenes Parthenonbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.6174#0434
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414

Heinrich Sitte.

zelne Hexameter zu dichten, plan- und gedankenlose Zierglieder bloß für den äußerlichen Sinnen-
reiz zu schaffen, hätte der «Homer» aller bildenden Kunst verschmäht; auch, wie es schon andere
vermochten, zwei Verse etwa zu einem feinen Distichon formal hübsch zusammenzuhängen, hätte
einem Phidias am Parthenon nicht genügt; selbst mit Tetraden findet man hier, wie auch Passow
ganz richtig erkennen und zugeben mußte, kein voll befriedigendes Auslangen. Uberhaupt hätte
da kein anderweitig feststellbares Maß hingereicht, um Phidias' ungewöhnliche Aufgabe ganz zu
erfüllen, seine ungewöhnlichen Gedanken ganz zu fassen; wir dürfen uns nicht schwächlich
scheuen, es auszusprechen: von dem Dichter Phidias verlangen wir hier am Parthenon ein Epos.
Eine thematisch einheitliche Metopenreihe enthält die Ostseite des Tempels, eine ebenfalls thema-
tisch einheitliche Metopenreihe die Westseite. So dürfen wir auch mit Recht je 32 zu einer Einheit
zusammengefügte Metopen in Nord und Süd erwarten; ahnen wir doch leicht darüber hinaus ein
Epos von 92 Hexametern, das, groß und einzig eines Phidias würdig, das eine Thema: Kampf
und Not ringsum am Parthenon behandelt.

Doch folgen wir diesmal nicht weiter den durch Passows schönes Wort vom epischen Hexa-
meter angeregten Gedanken; bleiben wir diesmal bei den von Dalton uns nahegerückten Süd-
metopen allein.

Warum hatte Schräder das Gefühl, daß tCarreys» Anordnung nicht richtig sein könne?
Weil er, wie es außer von Passow seit Bröndsted ja immer geschah, jede Metope für sich betrachtete,
anstatt selbst eine Reihe von bloß 6 Platten nur als Teil eines großen untrennbaren Ganzen zu
empfinden. Daß Metope XXXI und XXXII nahezu gleich komponiert sind, hatte schon Michaelis
hervorgehoben.1 Aber gerade Schräders Hinweis auf die sechsmalige Wiederholung der nahezu
gleichen Stellung bei den Kentauren der letzten sechs Südmetopen bringt uns das Ganze als
solches mit einem Ruck um vieles näher, ja fast vollkommen nahe. Eine solche Aufreihung würde
gewiß, wenn die ganze Reihe nur aus sechs, nur aus vierzehn Stücken bestünde, schärfsten Tadel
verdienen. Aber Phidias' Anordnung muß richtig sein! Phidias' Anordnung, wie wir sie von den
beiden Giebeln und dem Cellafries her kennen und hier ebenbürtig erwarten müssen.

Wer von Beethovens fünfter Symphonie zufällig nur die letzten 55 Takte kennen würde:
erst, vor dem allerletzten C-dur-Akkord durch volle 28 Takte hindurch nur reine C-dur-Dreiklänge
in rhythmisch hart getrennten Orchesterschlägen und weiter vorher noch ganze 26 Takte fast ohne
jeden Wechsel der Harmonien, der könnte wohl auch schreiben, daß Beethovens Anordnung nicht
richtig sein könne. Aber, dieser mächtige Aufbau des Schlusses als das aufgefaßt, was er allein
bedeuten soll und sein will, als Schluß des untrennbaren Ganzen durchgeführt und durchgenossen,
wie es Beethoven vorschreibt: «sempre piü Allegro> und schließlich noch: «Presto», das läßt uns
erst den ganzen ungeheuren Schwung, die ganze Wucht des Riesenwerkes recht empfinden. Und
Wucht, ein gewaltiges «pondus», wie es die anderen größten Bildhauer des goldenen Zeitalters der
griechischen Kunst nach antikem Ausspruch nicht hatten, nicht bloß äußerliche Kolossalität sondern
wirkliche innere Größe müssen wir bei dem sie alle überragenden Denker Phidias nach allem, was
wir bestimmt von ihm wissen, auch hier zuversichtlich erwarten. Ganz wie bei Beethovens Werk
müssen auch bei Phidias' Schöpfung diese letzten sechs Metopen der Südseite des Parthenon emp-
funden werden als harmonisch würdiger Abschluß eines großen Ganzen, dessen so überwältigend
wuchtiges ornamentales Auswellen uns erst die dramatische Kraft ahnen läßt, die seine Mitte, die
von dort ausströmend alle Teile des unteilbaren Ganzen erschütterte. Denn als unteilbare Ein-
heit, so recht im antiken Sinne des Augustinus2 als «omnis pulchritudinis forma unitas» müssen
wir alle Südmetopen auffassen; sie müssen alle zu einem großen Thema gehören, das in einer
32gliedrigen Periode wie in 32 Takten oder Versen nur einen Gedanken zum Ausdruck bringt.

Und dieses große Thema muß groß behandelt gewesen sein, so wie wir es von dem einen
Schöpfer aller Ost- und Westmetopen, beider Giebel, des Frieses, der Parthenos, des ganzen Par-

1 Michaelis, S. 126.

2 Augustinus, t. II, col. 85, epist. XVIII, Coelestino.
 
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