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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 32.1915

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Sitte, Heinrich: Ein vergessenes Parthenonbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.6174#0435
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Ein vergessenes Parthenonbild.

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thenon, des olympischen Zeus, kurz von den reifsten Werken des alten Meisters, von dieser Inkar-
nation des Phidias und der letzten Vollendung aller bildenden Kunst erwarten dürfen und müssen.
Da darf nicht jedes Feld mit einer Kentaurendarstellung gefüllt sein, die jeder gleich als typisches
Schulbeispiel einer Kentauromachie begrüßen kann; das wäre nur 32 mal 1 + 1.

Da müssen bei der stummen und unbeweglichen Sprache der Bildhauerei unbedingt eine ganze
Anzahl anderer Figuren vorhanden sein, die uns das Entsetzen ausmalen und deutlich wahrnehmbar
vor Augen stellen, das der rohe Kampf mit den wilden Trunkenbolden bei ihnen hervorrief, wie
in Olympia die vier in den Ecken auf dem Boden zitternden Alten, wie die Hippodameia und
ihre Umgebung am Fries von Phigalia. Und diese meist mehr aufrecht stehenden Gestalten, die
zudem in der Minderzahl sind, müssen die Mitte der gro(3en Komposition einnehmen, die zahl-
reichen bewegten Kampfgruppen, die zwei Seiten des dreiteiligen Werkes bilden. Dann muß, wenn
die Bedrängnis aufs äußerste gestiegen erscheinen soll, so daß sich die Lapithen allein nicht mehr
zu halten vermöchten, ein Gott als Retter erscheinen und helfend mit eingreifen; denn nur da-
durch, daß dieser schon erschienen ist, kann uns der Bildhauer in seiner stummen unbeweglichen
Sprache doch deutlich sagen, daß die äußerste Gefahr tatsächlich gekommen war, wie in Olympia
Apoll unfaßlich groß in der Mitte des Kampfgetümmels erscheint, wie auch in Phigalia Apoll und
Artemis auf ihrem Hirschgespann heranbrausen, gerade dorthin Hilfe bringend, wo die Wehrlosesten
am stärksten bedroht erscheinen. Und gerade in der Mitte müßte dieser Retter erscheinen, an
bedeutendster Stelle wie in den Ostmetopen Zeus auf seinem Flügelgespann. Wenn wir die Zeich-
nungen «Carreys» nicht hätten, wir müßten mit jenem unnachahmlich lebendigen Abweichen von
starrer Symmetrie auf der Südmetope XV ein heranbrausendes Gespann vermuten, dessen Pferde
sich aufbäumen in ihrer Hast, vermuten, daß es gelenkt wäre von einem weiblichen Lenker, dessen
Gewand im Winde weht, vermuten, daß es den rettenden Gott heranführte: Wir müßten eine
Darstellung Apolls und seiner Schwester Artemis erwarten. Und die «Kämpfer» von Metope XVI,
diese merkwürdig waffenlosen «Kämpfer»:' Könnte es nicht Apollo sein, der einem zu Tode ge-
troffenen Lapithen hier doch noch Hilfe und Rettung bringt im allerletzten Augenblick, als
— eben dadurch kann es der bildende Künstler erst deutlich sagen — keine Hilfe, keine Rettung
mehr möglich schien? So möchte man das Ganze nunmehr ahnen; in dieser Richtung sollte
man, glaube ich, weiter suchen, um vielleicht allmählich alle Züge klarer erfassen zu können von
einem Gliede eines Teilgedankens der ganzen Parthenondichtung.

Wir müssen trachten, wir dürfen hoffen, allmählich alle seit Bröndsted aufgetauchten Irrtümer
zu überwinden und zu einer sowohl des Phidias als auch unser selbst weiterhin allein würdigen
Auffassung der südlichen Metopenreihe des Parthenon durchzudringen. Fast wie eine Dämmerung
der anbrechenden Erkenntnis muten uns die Worte Studniczkas an:1 «Allerdings liegt die Frage
nahe, ob nicht auch Metope XX (und mit ihr vielleicht noch weiteres) anzugliedern sei.»
Gewiß, alle 32 Metopen müssen einst als künstlerische Einheit von Phidias geschaffen worden sein,
so wie sie lückenlos von «Carrey» überliefert wurden.

Möge es uns wirklich einmal gelingen, diesem einen Phidias, von dem allein unsere sicheren
Quellen reden, den wir nie hätten aus den Augen verlieren sollen, auf diesem Wege wieder näher
zu kommen, den uns Daltons trotz der wiederholten ausdrücklichen Erwähnung bei Michaelis selbst
von den Facharchäologen vergessenes Parthenonbild nunmehr neuerdings deutlich gewiesen hat.

1 Studniczka, S. 261.

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