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Gustav Glück.
Stelle in den Liedern Walthers von der Vogelvveide, wo der Dichter Frau Minne anfleht, sie
möge ihre Pfeile nicht nur gegen ihn selbst sondern auch gegen die von ihm Verehrte richten.
Die Hauptgruppe ist — abgesehen von einem unter einem Baldachin knienden und betenden
Ritter, einem in nachdenklicher Haltung unter Bäumen sitzenden Bürger und einem Einhorn, das
in einem Zelte ruht, — umgeben von vier Gruppen von Liebespaaren, in denen das Thema der
Zärtlichkeit in verschiedener Weise abgewandelt erscheint. Der ausführlichen Allegorie liegt offenbar
ein höfisches Motiv des Mittelalters zugrunde; denn wir finden die wesentlichen Elemente der
Darstellung schon auf französischen elfenbeinernen Gegenständen aus der ersten Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts, z. B. auf einer Spiegelplatte im Musee Cluny zu Paris1 (Fig. 2), wo die allegorische
Gestalt der Liebe mit
den beiden Pfeilen —
in diesem Falle eine
männliche, also amor
oder l'amour — von
vier zärtlichen Liebespaa-
ren umgeben erscheint.
Einen ganz andern
Vorwurf als der eben be-
sprochene «kleine Lie-
besgarten», dessen Ent-
stehung den Trachten
nach etwa in der Zeit
von 1430 bis 1450 ange-
setzt werden muß, scheint
uns der «große Liebes-
garten» (Fig. 3) wieder-
zugeben. Hier fehlt die
allegorische Figur der
Liebe ganz. In einer
gartenähnlichen Anlage
haben sich sechs Paare
von vornehmen Herren
und Damen versammelt.
Drei davon stehen an
einem mit Speise und
Trank bedeckten Tisch
und die einzelnen Herren
und Damen reichen ein-
ander Früchte und Wein zu. Die übrigen Paare haben sich im Vordergrunde niedergelassen:
eines spielt Karten, eine Dame begleitet den Gesang ihres Verehrers auf der Laute, eine andere
schmückt den Hut des neben ihr auf dem Boden lagernden Edelmannes, der seinen Jagdfalken an
einem Geländer angebunden hat, mit Blumen. Verschiedene Tiere, darunter Hirsche, Hasen, Bären,
Hunde, Schweine, ein Einhorn und ein Affe, die im Garten zerstreut sind, dienen entweder als
Füllsel oder sollen einen Tiergarten andeuten. Zwei Krüge mit Wein hat man, an einem star-
Fig. 2. Der Gerichtshof der Liebe, Elfenbeinplatte im Musfe Cluny zu Paris.
1 Nr. 1070. Eine nicht ganz verläßliche Abbildung bei Paul Lacroix, Mceurs, usages et costumes au moyen-äge et
ä l'epoque de la renaissance, Paris 1871, p. 255. Eine gute Photographie verdanken wir der Freundlichkeit des Herrn
Geheimrat Professor Dr. Adolf Goldschmidt in Berlin, der uns zugleich auf eine nicht unverdächtige Wiederholung aus dem
Besitze des verstorbenen Pierpont Morgan aufmerksam macht. Ähnliche Motive finden sich auch auf verschiedenen Elfenbein-
gegenständen des Berliner Museums; vgl. W. Vöges Verzeichnis der Elfenbeinwerke, 1900, Nr. 93, 99 und 140.
Gustav Glück.
Stelle in den Liedern Walthers von der Vogelvveide, wo der Dichter Frau Minne anfleht, sie
möge ihre Pfeile nicht nur gegen ihn selbst sondern auch gegen die von ihm Verehrte richten.
Die Hauptgruppe ist — abgesehen von einem unter einem Baldachin knienden und betenden
Ritter, einem in nachdenklicher Haltung unter Bäumen sitzenden Bürger und einem Einhorn, das
in einem Zelte ruht, — umgeben von vier Gruppen von Liebespaaren, in denen das Thema der
Zärtlichkeit in verschiedener Weise abgewandelt erscheint. Der ausführlichen Allegorie liegt offenbar
ein höfisches Motiv des Mittelalters zugrunde; denn wir finden die wesentlichen Elemente der
Darstellung schon auf französischen elfenbeinernen Gegenständen aus der ersten Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts, z. B. auf einer Spiegelplatte im Musee Cluny zu Paris1 (Fig. 2), wo die allegorische
Gestalt der Liebe mit
den beiden Pfeilen —
in diesem Falle eine
männliche, also amor
oder l'amour — von
vier zärtlichen Liebespaa-
ren umgeben erscheint.
Einen ganz andern
Vorwurf als der eben be-
sprochene «kleine Lie-
besgarten», dessen Ent-
stehung den Trachten
nach etwa in der Zeit
von 1430 bis 1450 ange-
setzt werden muß, scheint
uns der «große Liebes-
garten» (Fig. 3) wieder-
zugeben. Hier fehlt die
allegorische Figur der
Liebe ganz. In einer
gartenähnlichen Anlage
haben sich sechs Paare
von vornehmen Herren
und Damen versammelt.
Drei davon stehen an
einem mit Speise und
Trank bedeckten Tisch
und die einzelnen Herren
und Damen reichen ein-
ander Früchte und Wein zu. Die übrigen Paare haben sich im Vordergrunde niedergelassen:
eines spielt Karten, eine Dame begleitet den Gesang ihres Verehrers auf der Laute, eine andere
schmückt den Hut des neben ihr auf dem Boden lagernden Edelmannes, der seinen Jagdfalken an
einem Geländer angebunden hat, mit Blumen. Verschiedene Tiere, darunter Hirsche, Hasen, Bären,
Hunde, Schweine, ein Einhorn und ein Affe, die im Garten zerstreut sind, dienen entweder als
Füllsel oder sollen einen Tiergarten andeuten. Zwei Krüge mit Wein hat man, an einem star-
Fig. 2. Der Gerichtshof der Liebe, Elfenbeinplatte im Musfe Cluny zu Paris.
1 Nr. 1070. Eine nicht ganz verläßliche Abbildung bei Paul Lacroix, Mceurs, usages et costumes au moyen-äge et
ä l'epoque de la renaissance, Paris 1871, p. 255. Eine gute Photographie verdanken wir der Freundlichkeit des Herrn
Geheimrat Professor Dr. Adolf Goldschmidt in Berlin, der uns zugleich auf eine nicht unverdächtige Wiederholung aus dem
Besitze des verstorbenen Pierpont Morgan aufmerksam macht. Ähnliche Motive finden sich auch auf verschiedenen Elfenbein-
gegenständen des Berliner Museums; vgl. W. Vöges Verzeichnis der Elfenbeinwerke, 1900, Nr. 93, 99 und 140.