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1896

. JUGEND

Nr. 40

Grüss Gott Sonne!

Von Eduard Graf Keyserling,

Zeichnungen von A. Halmi.

Die Vroni hatte beschlossen zu ster-
ben. Während sie im Geschäft die Federn
und Blumen in die Pappschachtel packte,
um heimzugehen, war es ihr klar geworden.
Wenn ein armes Mädchen einen Schatz
hat, und der verlässt es und geht schon
den dritten Sonntag mit der schwarzen
Lena in’s Wirthshaus, dann bleibt eben
nichts übrig, als der Tod, nicht wahr?
Das Weinen und sich Härmen hatte Vroni
satt. Mit der Eifersucht, die ihr wie eine
Krankheit am Herzen frass, weiterleben,
war nicht möglich. Ernst band Vroni die
Schnur um die Schachtel, nickte der Dame
an der Kasse einen „Guten Abend“ zu
und ging in den Frühlingsabend hinaus.
Fest in die helle Sommerjacke geknöpft,
blonde, flatternde Löckchen auf der Stirn,
wand sie sich flink durch das Gedränge.
Auf dem Weg in die Vorstadt hinaus
dachte sie über ihren Entschluss nicht
nach; wozu auch? Der stand fest, und

damit war’s gut! Fleissig schaute
sie nach rechts und links; ab und
zu grüsste sie mit dem kurzen,
lustigen Nicken der Münchner
Mädchen, und als ein Berauschter
an ihr vorübertaumelte, sandte sie
ihm das rücksichtslose Lachen des
Vorstadtkindes nach.

Jetzt warsie zu Hause und sprang
leicht die vier Treppen zu ihrer
Wohnung hinauf. Ihrer Zimmer-
frau rief sie ein helles: „Grüss
Gott, Frau Nestelmeyer!“ zu, dann
verschloss sie sich in ihrem Stüb-
chen. Nachdem sie ordentlich, wie
jeden Abend, Hut und Jacke bei-
seite gelegt, holte sie ein Fläsch-
chen aus dem Kasten und setzte
es auf den Tisch. Das hatte Frau
Nestelmeyer ihr gegen Zahnweh
gegeben. Viel war nicht darin;
aber es trug einen Zettel mit einem Kreuz,
einen Todtenkopf unter dem Worte: „Gift“;
da mussten wenige Tropfen genügen. So!
nun war sie fertig. Sie sann einen Augen-
blick: Nachtessen! Nein, wenn Einer stirbt,
braucht er kein Nachtessen. Das war selbst-
verständlich; allein es überlief Vroni bei
diesem Gedanken doch so kalt. Sie fand es
nun dumpf im Stübchen und öffnete das
Fenster. Die Abendluft that wohl. Vroni
legte sich in das Fenster und schaute hi-
naus; sie hatte ja noch Zeit. Die Frühlings-
dämmerung lag grau über den Dächern;
auf der Strasse erwachten die Gasflammen,
eine Reihe gelber Lichtpünktchen, und
oben, am bleichen Himmel, blinkte ein
Stern mit weissem, unruhigem Glanz. Ein
feuchtes Wehen kam aus der Ferne, die,
von Nebel und Zwielicht verhangen, so
unendlich und geheimnissvoll erschien.
Und Vroni war es, als weitete sich auch
ihre Seele, die enge, heisse Mädchenseele,
in der die thörichten Liebesschmerzen
summten, wie Sommerfliegen, die sich in
einer Tulpe gefangen haben. Sie fühlte
sich so ganz allein diesem grossen Schwei-

gen und dem im Blau verlorenen Sterne
gegenüber. Ja! so muss der Tod sein —
so einsam und still und unendlich! Tiefes
Mitleid mit sich selbst stieg in Vroni auf.
Bleich und regungslos würden sie sie
morgen finden; sie würden Blumen bringen
und weinen, und Er würde wohl wissen,
wer sie da hineingetrieben. — Von unten
aus der Finsterniss stieg jetzt ein süsser,
schwüler Duft auf. Dort musste wohl in
der Nacht etwas erblüht sein. Dieses
Duften brachte Vroni wieder zur Erde und
ihrem Kummer zurück. Sie dachte an
Lena, an den Verrath ihrer Liebe und
schluchzte vor Zorn und Eifersucht. Das
müsste ein Ende nehmen; sie war zu un-
glücklich! Sie griff nach dem Fläschchen
und leerte es auf einen Zug. Eine Weile
stand sie regungslos da und wartete: „Der
Tod kommt nicht so schnell“, sagte sie
sich, sie hatte noch Zeit sich niederzulegen.

Vroni lag nun auf ihrem Bette und
horchte in sich hinein, ob die unheimliche,
räthselhafte Arbeit des Sterbens in ihr
beginne. Es war doch wunderbar, so still
dazuliegen und zu warten. Was wird ge-
schehen? Sie werden sie aufbahren und
zum Friedhof hinaustragen; gut! das war
denkbar. Aber, wo war sie, die Vroni,
dann? Nicht leben — nicht mehr sein
— wie ist das? Das arme Mädchen, allein
in der stillen, finstern Stube vor dieses
furchtbare Räthsel gestellt, ihm anheim-
gegeben, ward von entsetztem Bangen er-
fasst. Die Jugend in Vroni bäumte sich
dagegen auf. Geängstigt wollte Vroni auf-
springen, Frau Nestelmeyer rufen, doch
dann kam es wie müde Muthlosigkeit über
sie; die Glieder waren so schwer, die
Augen fielen ihr zu: „Es hilft nichts, da
kommt er schon, der Tod; da kommt er!“
wiederholte sie matt, und es war ihr, als
würde sie fortgetragen von einem grauen,
weichen Nebelstrom, fort in farblose Däm-
merung. Häuser, Strassen zogen vorüber,
aber lichtlos und zerfliessend; eine Welt
""" 'Mohel und Spinnweb. Vroni kämpfte

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Eduard Graf Keyserling: Grüß Gott Sonne!
Arthur Lajos Halmi: Zeichnung zum Text "Grüß Gott Sonne!"
 
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