Nr. 1
• JUGENÖ
1897
»
„Gestatten Sie mir, mich als Abge-
sandten unseres beiderseitigen Freundes
— Northon — vorzustellen“ — versetzte
er lächelnd.
„Ist er krank?“ fragte ich hastig.
„Nein, gnädige Frau. Aber lassen Sie
uns einsteigen. Im Wagen werden wir
uns besser verständigen können. Welches
Hotel ?“
„Hotel Minerva.“
,Liebste Irma/ schrieb mir Northon in
dem Briefe, den er mir durch seinen
Freund übersandte, ,erlauben Sie mir,
Ihnen in Herrn Giovanni Rolli meinen
liebsten und besten Freund vorzustellen.
Er wird Ihnen erklären, warum ich auf
das Vergnügen unseres Wiedersehens ver-
zichten muss und mein Fürsprecher sein;
ich weiss, dass Sie, mit Ihrer bekannten
Güte, ihn keine Fehlbitte thun lassen
werden. Er stellt sich Ihnen ganz zur
Verfügung und bringt Ihnen seine volle
Sympathie entgegen um des Guten willen,
das ihm von Ihnen erzählt hat
Ihr getreuer
N.‘
„Nun reden Sie!“ bat ich mit leiser
Stimme, während Rolli mich mit forschen-
der Theilnahme beobachtete.
„Erlauben Sie,“ sagte er, „dass ich in
erster Linie eine etwas indiskrete Frage
an Sie richte, die jedoch durch die ausser-
gewöhnliche Art und Weise unserer Be-
kanntschaft einigermassen entschuldbar
Ist. Sind Sie noch immer sehr in unsern
Freund verliebt?“
„Mein Herr!“
„Haben Sie in diesen beiden Jahren,
seit Sie sich nicht mehr schrieben, viel
an ihn gedacht, viel seinetwegen ge-
litten?“
Unwillkürlich musste ich die Hände
vors Gesicht schlagen, beschämt schüttelte
ich den Kopf.
„Warum dann, gnädige Frau, warum
also diesen Leichnam galvanisiren ? Warum
den armen Todten nicht in Ruhe lassen?
Northon hat unendlich viel Achtung für
Sie, das kann ich Sie versichern, aber für
den Augenblick — —“
„Nun? —“
„Liebes Kind, beweisen Sie, dass Sie
das sind, für was ich Sie halte — eine
kluge Frau. Unser armer Freund ist im
Augenblick sterblich in Marietta, die schöne
Kellnerin des Cafö Colonna verliebt und
die ist so rasend eifersüchtig, dass sie
ihn keinen Moment aus den Augen lässt.
Das ist der Grund, weshalb er nicht
kommen konnte.“-
Es regnete noch immer in Strömen,
aber in meinem Innern war es plötzlich
hell geworden. Warum, weiss ich nicht.
Ich versetzte mich in mein stilles Zimmer
zurück und las im Geiste die Worte wieder
die ich gestern dort gelesen und der Ver-
gleich mit diesen und der Situation, in
welcher sich der arme Junge augenblick-
lich befand, reizten meine Lachlust in
solchem Masse, dass ich mir die grösste
Mühe geben musste, sie zu unterdrücken,
Fritx Rchm (Minchin),
um nicht in den Verdacht zu kommen,
ich sei übergeschnappt — —
„Ich habe Verschiedenes hier zu be-
sorgen,“ sagte ich endlich, „und hoffe, Sie
werden die Freundlichkeit haben, mein
Cicerone zu sein in diesem grossen Rom,
wo ich beinahe fremd bin?“
„Sehen Sie, dass ich Recht hatte, Sie
für eine kluge Frau zu halten?“ sagte Rolli
lächelnd, währenddem er mir beim Aus-
steigen behilflich war.“
„Mit dieser Klugheit ist es nicht so
weit her“, erwiderte ich, „denn ich habe
mich zweier grober Fehler schuldig ge-
macht.“
„Und die wären?“
„Nun also, erstens habe ich geglaubt,
der Stimme des Herzens zu folgen in einer
Sache, bei welcher es sich lediglich um
eine Einbildung handelte. Zweitens habe
ich mich in der Zeitrechnung geirrt: Liebes-
briefe haben nur an dem Tage Giltigkeit,
an dem sie geschrieben wurden, nachher
gehören sie in den Aktenschrank. Habe
ich Recht oder nicht? —“
Herr Giovanni folgte mir lachend und
neigte zum Beweis seines Einverständ-
nisses das weissbehaarte Haupt.
Russische Sprüchwörter
mitgetheilt von Wladimir Czumikow
(St. Petersburg).
Bei Gott das Gebet und beim Zaren
der Dienst gehen nicht verloren.
Faste mit dem Geiste und nicht mit
dem Bauch.
Mancher nimmt keinen Schluck Milch
am Freitag, aber ein junges Milchweib
lässt er auch am Char-Samstag nicht un-
geschoren.
Zu Hause sei fromm, in die Kirche
geh aber dennoch.
Schimpfe nicht auf den Spiegel, wenn
Deine Fratze schief ist.
Ungebetene Gäste sind schlimmer als
die Tartaren.
Was die Feder geschrieben, kann keine
Axt tilgen.
Wer ein fremdes Weib liebt, muss sich
auch mit ihm plagen.
' Wer Glück hat, bei dem gibt auch ein
Ochse Milch.
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„Gestatten Sie mir, mich als Abge-
sandten unseres beiderseitigen Freundes
— Northon — vorzustellen“ — versetzte
er lächelnd.
„Ist er krank?“ fragte ich hastig.
„Nein, gnädige Frau. Aber lassen Sie
uns einsteigen. Im Wagen werden wir
uns besser verständigen können. Welches
Hotel ?“
„Hotel Minerva.“
,Liebste Irma/ schrieb mir Northon in
dem Briefe, den er mir durch seinen
Freund übersandte, ,erlauben Sie mir,
Ihnen in Herrn Giovanni Rolli meinen
liebsten und besten Freund vorzustellen.
Er wird Ihnen erklären, warum ich auf
das Vergnügen unseres Wiedersehens ver-
zichten muss und mein Fürsprecher sein;
ich weiss, dass Sie, mit Ihrer bekannten
Güte, ihn keine Fehlbitte thun lassen
werden. Er stellt sich Ihnen ganz zur
Verfügung und bringt Ihnen seine volle
Sympathie entgegen um des Guten willen,
das ihm von Ihnen erzählt hat
Ihr getreuer
N.‘
„Nun reden Sie!“ bat ich mit leiser
Stimme, während Rolli mich mit forschen-
der Theilnahme beobachtete.
„Erlauben Sie,“ sagte er, „dass ich in
erster Linie eine etwas indiskrete Frage
an Sie richte, die jedoch durch die ausser-
gewöhnliche Art und Weise unserer Be-
kanntschaft einigermassen entschuldbar
Ist. Sind Sie noch immer sehr in unsern
Freund verliebt?“
„Mein Herr!“
„Haben Sie in diesen beiden Jahren,
seit Sie sich nicht mehr schrieben, viel
an ihn gedacht, viel seinetwegen ge-
litten?“
Unwillkürlich musste ich die Hände
vors Gesicht schlagen, beschämt schüttelte
ich den Kopf.
„Warum dann, gnädige Frau, warum
also diesen Leichnam galvanisiren ? Warum
den armen Todten nicht in Ruhe lassen?
Northon hat unendlich viel Achtung für
Sie, das kann ich Sie versichern, aber für
den Augenblick — —“
„Nun? —“
„Liebes Kind, beweisen Sie, dass Sie
das sind, für was ich Sie halte — eine
kluge Frau. Unser armer Freund ist im
Augenblick sterblich in Marietta, die schöne
Kellnerin des Cafö Colonna verliebt und
die ist so rasend eifersüchtig, dass sie
ihn keinen Moment aus den Augen lässt.
Das ist der Grund, weshalb er nicht
kommen konnte.“-
Es regnete noch immer in Strömen,
aber in meinem Innern war es plötzlich
hell geworden. Warum, weiss ich nicht.
Ich versetzte mich in mein stilles Zimmer
zurück und las im Geiste die Worte wieder
die ich gestern dort gelesen und der Ver-
gleich mit diesen und der Situation, in
welcher sich der arme Junge augenblick-
lich befand, reizten meine Lachlust in
solchem Masse, dass ich mir die grösste
Mühe geben musste, sie zu unterdrücken,
Fritx Rchm (Minchin),
um nicht in den Verdacht zu kommen,
ich sei übergeschnappt — —
„Ich habe Verschiedenes hier zu be-
sorgen,“ sagte ich endlich, „und hoffe, Sie
werden die Freundlichkeit haben, mein
Cicerone zu sein in diesem grossen Rom,
wo ich beinahe fremd bin?“
„Sehen Sie, dass ich Recht hatte, Sie
für eine kluge Frau zu halten?“ sagte Rolli
lächelnd, währenddem er mir beim Aus-
steigen behilflich war.“
„Mit dieser Klugheit ist es nicht so
weit her“, erwiderte ich, „denn ich habe
mich zweier grober Fehler schuldig ge-
macht.“
„Und die wären?“
„Nun also, erstens habe ich geglaubt,
der Stimme des Herzens zu folgen in einer
Sache, bei welcher es sich lediglich um
eine Einbildung handelte. Zweitens habe
ich mich in der Zeitrechnung geirrt: Liebes-
briefe haben nur an dem Tage Giltigkeit,
an dem sie geschrieben wurden, nachher
gehören sie in den Aktenschrank. Habe
ich Recht oder nicht? —“
Herr Giovanni folgte mir lachend und
neigte zum Beweis seines Einverständ-
nisses das weissbehaarte Haupt.
Russische Sprüchwörter
mitgetheilt von Wladimir Czumikow
(St. Petersburg).
Bei Gott das Gebet und beim Zaren
der Dienst gehen nicht verloren.
Faste mit dem Geiste und nicht mit
dem Bauch.
Mancher nimmt keinen Schluck Milch
am Freitag, aber ein junges Milchweib
lässt er auch am Char-Samstag nicht un-
geschoren.
Zu Hause sei fromm, in die Kirche
geh aber dennoch.
Schimpfe nicht auf den Spiegel, wenn
Deine Fratze schief ist.
Ungebetene Gäste sind schlimmer als
die Tartaren.
Was die Feder geschrieben, kann keine
Axt tilgen.
Wer ein fremdes Weib liebt, muss sich
auch mit ihm plagen.
' Wer Glück hat, bei dem gibt auch ein
Ochse Milch.
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