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Nr. 2

JUGEND

1897

.Moralische Geschichten

Die nachstehenden Erzählungen sind von
dem aufrichtigen Wunsche eingegeben, zur
Besserung der Menschen durch Vorführung
erbaulicher oder abschreckender Beispiele
beizutragen. Schon aus de» Titeln wird
der Leser ersehen, daß es sich nicht um
frivole Unterhaltung handelt, sondern um
ernstere und wichtigere Dinge.

Laß dich niemals vom Zorne Hin-
reißen I

Anna XX., eine sonst schätzenswerthe
Frau, hatte die Gepflogenheit, mehrere
Anbeter zu gleicher Zeit zu besitzen. Einst
verwies ihr Gatte ihr dieses Betragen.
Sie nahm seine Vorstellungen mit ge-
wohnter Sanftmut!) entgegen und ver-
sprach, sich zu bessern. Bald jedoch verfiel
sie wieder in ihren alten Fehler, und als
ihr Mann dies erfuhr, versuchte sie ver-
gebens, ihn zu beschwichtigen. Er wurde
so zornig, daß er ein neben ihm stehendes
Glas zu Boden schleuderte; das Glas zer-
sprang in tausend Stücke, und einer der
Splitter drang ihm in das rechte Auge und
verleyre es dermaßen, daß man das
edle Organ entfernen mußte. Der Un-
glückliche bereute bis an sein Lebens-
ende die rasche That und ermahnte
oft seine Söhne, sich niemals vom
Zorne hinreißcn zu lassen.

Sei gehorsam deinen Eltern I

Ein Elternpaar hatte zwei Töch-
ter: Paula und Marie, beide von
großer Schönheit. Eines Tages be-
warb sich um die Hand der Aelteren
ein wohlgekleiderer, vermögender
Herr, der in der Stadt dadurch be-
kannt war, daß er die Gnade des
Monarchen erfahren hatte. Er war
nämlich wegen verwickelter Geschäfte

vor Gericht gestellt und verurtheilt, aber
nach einiger Zeit, aus Anlaß eines festlichen
Ereignisses im Fürstenhause, das die ganze
Bevölkerung mir Freude erfüllte, aus dem
Gefängnisse entlassen worden. Die Eltern
empfingen den Mann, der schon so viel
Unglück gehabt hatte, mit Freundlichkeit,
die Tochter aber wollte nichts von ihm
wissen und berief sich darauf, daß die
Richter sich abfällig über ihn geäußert
hätten. Vergebens stellte ihr die gute
Mutter vor, daß es nicht den lNenfchen,
sondern Gort zukomme, zu verurtheilen
und daß es überdies gesetzlich nicht erlaubt
sei, jemandem eine abgebüßre Strafe vor-
zuwerfen, — Paula blieb hartnäckig auf
ihrem Sinne bestehen. Als nun Marie
aufgcfordcrr wurde, an die Stelle ihrer
ungehorsamen Schwester zu treten, wider-
sprach sie nicht, sondern erfüllte freudig
den willen ihrer Eltern- So wurde sie
eine reiche Frau und konnte Schneidern,
Schustern, Putzmacherinnen und anderen
arbeitsamen Leuten viel zu verdienen
geben. Paula aber, deren Schönheit bald
verblühte, geriet!) nach dem Tode ihrer
wackeren Eltern in so dürftige Verhält-

J. Die

J. A. Wit\tL (muHie/jtn).

nisse, daß sie genöthigt war, sich kümmer-
lich durch ihrer Hände Arbeit zu ernähren.
Marie, die man darauf aufmerksam machte,
betrachtete dies mir Recht als eine Strafe
des Himmels und pflegte jedem, der es
wagte, ihr von ihrer Schwester zu sprechen,
mit dem Spruche zu antworten, den sie
schon in der Schule gelernt hatte: „Ver-
giß die alte Lehre nicht, gehorsam sein ist
Rindespflicht."

Gottes Wille geschehe!

Irschak war der Rban eines Tartaren-
stamines und berühmt als einer der besten
Schachspieler seiner Zeit. Marsuk, der
Rhan eines anderen Tartarenstammes, ge-
noß den gleichen Ruf. Die Beiden hatten
schon viel von einander gehört, aber sich
nie gesehen und brannten vor Begier, ihre
Rräfte auf dem Schachbrett zu messen.
Endlich beschlossen sie, auf einer Insel des
Flusses, der ihre Gebiete trennte, zujammen-
zurreffen und dort in Gegenwart ihrer
Großen eine Partie um tausend Pferde zu
spielen. Der Tag der Zusammenkunft
erschien; Beide waren aufdem Platze,
und nach feierlicher und herzlicher
Begrüßung begann das Turnier.
Marsuk war es, der den Sieg davon-
trug. Sein Gefolge brach in Iubel-
geschrei aus und ließ die Säbel in
der Sonne blitzen. Irschak war
niedergeschmettert. „Wenn es Euch
recht ist," rief er, „spielen wir eine
zweite Partie um zweitausend pfer-
de." Marsuk war zu stolz, um abzu-
lehnen, spielte die Partie und verlor
sie, und die Rrieger des Gegners bra-
chen in ohrenbetäubenden Triumph-
lärm aus. „Eine dritte Partie," rief
er, „eine drittel was soll es gelten?"
„Unsere Länder," erwiderte Irschak,
„sollen der Einsatz sein; wer ge.
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