Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
189*7

jUGENO *

Nr. 2

t

Legende

Cs waren einst zwei junge Men-
schenkinder, die standen am Ufer
des Levens, und ais die Sonne
ausging, schauten stc sich jubelnd
in die leuchtenden Augen, und
küssten sich jimt ersten Mal auf
den Mund.

Na kamen die alten, klugen
Leute und zeterten: „Ihr seid zu
jung, um schon am Ziel aller Wün-
sche zu sein! Ihr seid zu jung, euch
hat das Leven noch nicht geprüft,
noch nicht gestählt. Trennt euch,
und laßt die Zeit über eure Liebe hin-
gehen. Die Zeit musz alles klären!“

Nun weinten die beiden Men-
schenkinder, weil sie so jung waren.

Und' — die Zeit trat heran,
und nahm ste in ihre weiten, wei-
ten, unendlichen Arme.-

Auf dem Kreuzwege begegneten
sich ein Mann und ein Weib, die
von der Arbeit kamen. Das Weib
war hager, müde und verblüht,
der Mann hatte ein stumpfes, ver-
drossenes Gesicht. Seine Kleider
waren feucht von Schweiß.

Die Weiden grüßten sich kaum,
und aus ihren traurigen Augen
sprach es:

„Wir müssen arbeiten. Wir
haben keine Zeit für Licbesgetän-
del. Wir müssen arbeiten, vom
Morgen zum Abend, vom Abend
znm Morgen. Wir müssen arbeiten,
bis unsere armen Leiber erschöpft,
bis nufere Seelen kalt geworden
sind und nicht mehr träumen."-

Vor dem Greifenafyl, in dem
kleinen Garten, wo die Jasmin-
sträuche blühten, kamen ste wieder
zusammen. Cr war fast blind, und
sie schleppte sich an der Krücke fort.

Sie brachte ihm in einem Korbe
Ueberbleibsel aus der Küche. Tr
aß gierig, wie Einer, der sich lange
nicht satt gegessen hat.

Da wehte einmal der Wind ein
paar Jasminbtüthen aufdenStein-
tifch. Die alte Frau nahm die wei-
ßen, duftenden Kelche nachdenklich
zwischen ihre Finger und sagte plötz-
lich ganz leise: „Weißt Du noch?" —

Der Mann sah verständnißtos
d'rein: „Ich weiß nichts mehr" —
murmelte er, „die Zeit, die Zeit..."—

Und nun weinten die beiden
Menschenkinder, weil sie so alt
waren.

And die Zeit stand dabei und
neigte das Haupt; da sank di«

KbNNe. pa», AUhaf.

Fedtr^tichnung von Max Klinger.

Aus dem Max Klinger-Werke
(F. Hanfstsengl’s Kunstverlag in München).








.' - .


- - 7WWZ

1

m

i


29
Register
Für diese Seite sind hier keine Informationen vorhanden.

Spalte temporär ausblenden
 
Annotationen