Ki
M'GEND -
1897
Schwankende Ideale
(Ein Monolog in vier Anzügen)
Von Julian IVeiss.
(Morgenanzug: Rock und lange Blouse
aus weissem Pique, welche von einem
rosafarbenen Gürtel zusammengehalten
wird. Goldkäferchenschuhe und rosafarbene
Strümpfe.)
. . . Wie lange dauert es doch, bis ein
Mädchen sechzehn Jahre alt wird und wie
schnell wird es dann älter! .... Vor
meinem sechzehnten Geburtstag behan-
delte man mich wie ein Kind. Man wagte
das Wort Hochzeit niemals vor mir aus-
zusprechen, ja Papa wollte nicht einmal
das Wort Mitgift in den Mund nehmen. . .
Der Einzige, der mir stets vom Heiraten
sprach, war mein Cousin Emil, der mich
heimlich andichtete und anrauchte. Seine
Cigarren imponirten mir weit mehr als
seine Verse . . . Wenn ich mit ihm im
Garten spazieren ging und er mir die
rauchenden Reime ins Gesicht blies, ward
mir ganz eigenthümlich um’s Herz und
ich versprach ihm, seine Frau zu werden,
so bald er nur Advokat geworden sei . . .
Freilich dürfte dies lange währen. Emil
hat nämlich eine besondere Vorliebe für
das Gymnasium; er kann sich von dem-
selben gar nicht trennen und bleibt in
jeder Klasse, die ihm ganz besonders ge-
fällt, zwei Jahre. Wenn er mit ebensolcher
Anhänglichkeit auf den Bänken der Uni-
versität sitzen bleiben sollte, wird mir
trotz seiner Anhänglichkeit dasselbe Schick-
sal beschieden sein . . . Und doch ist er
ein reizender junger Mann . . . Seine
hübschen Augen, aus welchen mir sein
gutes Herz entgegenlacht . . . seine rei-
zenden Verse, welche mir gewidmet sind
. . . und die ehrerbietige Art, mit welcher
er stets zu mir spricht, obwohl er um
ein ganzes Jahr älter ist, all’ das ist ent-
zückend, ja geradezu ideal! Man muss
ihn lieb haben . . . Jetzt allerdings ver-
scheucht man ihn förmlich aus dem Hause.
Papa behauptet, er sei verschlafen wie das
Pferd einer Nachtdroschke — Papa liebt
die drastischen Gleichnisse —, während
Mama sagt, Emil wäre kein Umgang für
mich, denn ich sei jetzt ein grosses Mäd-
chen und er ein kleiner Junge . . . Ich
besässe ein langes Kleid und er trüge zu
kurze Pantalons, meint Mama ... In
der That habe ich das ersehnte lange
Kleid bekommen, das freilich noch nicht
die ersehnte Länge hat... Hoffentlich wird
es so rasch wachsen, wie ich selbst...
Denn jetzt spricht man vor mir von allen
möglichen Hochzeiten der Welt und ge-
stattet sogar, dass ich mitrede . . . Son-
derbar, früher ärgerte sich Papa und
Mama, wenn ich das Vernünftigste über
die Ehe sagte und jetzt lächeln sie mir
aufmunternd zu, wenn ich das Einfältigste
ausspreche . . . Nicht umsonst sehnt sich
ein junges Mädchen darnach, sechzehn
Jahre alt zu werden . . . Ich kann jetzt
reden, was mir einfällt, ja selbst reden,
wenn mir nichts einfällt, denn es werden
isich immer Zuhörer finden, die davon
entzückt sind . . . Die Redefreiheit ist
kein leerer Wahn . . . Der arme Emil
freilich darf überhaupt nichts mehr sagen,
denn er wird stets von Papa zur Ordnung
gerufen ... Er ist ganz niedergeschlagen,
raucht nur in der Küche vor den Dienst-
boten — er braucht nämlich immer ein
Auditorium dazu — und hat kaum den
Muth, Verse zu machen ... Er sieht
tieftraurig aus und es thut mir weh, wenn
ich ihn zerstört umherirren sehe . . .
Freilich sollte er ein wenig tapferer sein,
denn schliesslich ist er siebzehn Jahre
alt und lässt sich bereits rasiren — wie
er wenigstens in einem verzweifelten
Briefe an mich schrieb.
II.
(Strandtoilette: Kirschrothes Kleid aus
geripptem Crepe mit Spitzenkragen; gros-
ser Schirm, riesiger Florentiner mit
Rosetten aus rothem Sammt.)
... Hier in diesem Badeorte wäre es
unerträglich, wenn der junge Poet mit den
langen Haaren — man könnte ihm wahr-
haftig eine Nausikaa-Frisur flechten —
uns jungen Mädchen nicht Fensterprome-
naden machen würde ... Anfangs verspot-
tete ich den Dichter (es sind wahrhaftig
zwei Bände Gedichte von ihm im Selbst-
verläge erschienen!) und behauptete, dass
derselbe von der Kurdirektion angestellt
wurde, vor den Hotels auf und nieder zu
gehen, um darüber zu wachen, dass die
jungen Damen in der Verzweiflung der
Langweile nicht durchgehen . .. Doch seit-
dem ich wahrnahm, dass mich der Poet
viel freundlicher grüsst, als die Andern,
seitdem er mir seine Gedichte widmete,
sehe ich ein, dass ich ihn falsch beur-
theilte ... Er ist ein reizender Mensch!...
Wenn er mitten im Kursaale stehen bleibt,
sich mit der Hand durch die künstlerisch
ungepflegte Löwenmähne fährt — Frisur
ä la minute — und dann wie im Traume
weiter schreitet, imponirt er ungeheuer...
Er soll ein Wiener sein, aber während
man ihn daheim nicht beachtet, steht er
hier im Vordergrund des Interesses. Der
Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande
und der Poet weit mehr in einem Bade-
orte, als in seiner Vaterstadt... Mama
meint, dass er keine Gesellschaft für uns
sei, aber ich finde ihn anziehender, als
die alten Gecken, die sich über seinen
Haarwuchs lustig machen, weil sie selbst
keine Haare mehr haben... Auch die
übrigen jungen Damen finden ihn be-
wunderungswerth, ja ideal... Ida behaup-
tet, dass er Heine ähnlich wäre, Klara be-
theuert, er erinnere an den jungen Goethe,
wie er von Kaulbach gemalt wurde. (Wo
sie das nur gelesen haben mag?) Elsa
schwört, dass er an die George Sand ge-
mahne — nur weiblicher aussähe....
Mich zeichnet er immer ganz besonders
aus; er liest mir seine Gedichte vor...
Armer Emil! Wie klein bist Du neben
diesem Geistesriesen . . . Und wie er da-
bei die Augen auf- und niederschlägt . . .
Man hört die Lider förmlich klappen . . .
Lider ohne Worte . . . Mama ist ungedul
dig; sie will fort und so oft sich mir der
Poet nähert, zieht sie mich bei Seite und
sagt: „Wir werden abreisen . . . Das Ganze
hat keinen rechten Zweck . . .“ In eine
Erklärung dieser mysteriösen Worte wollte
sie sich nicht einlassen . . . Ich fragte Ida,
die schon seit sechs Jahren in allen euro-
päischen Kurorten umherreist und sich
alle möglichen irdischen Leiden angebadet
hat, was denn der Missmuth meiner Mama
zu bedeuten hätte. „Du Kind,“ entgeg-
nen Ida, „weisst Du denn nicht, dass man
uns in den Kurorten spazieren führt, um
uns zu verheiraten? Ich habe kalt und
warm gebadet, bin in Salzwasser gelegen,
im Schlamme gesessen und barfuss ge-
laufen, habe saures, süsses und bitteres
Wasser getrunken und eile wie eine ewige
Jüdin von einem Bad zum andern — aber
das Ganze hat keinen rechten Zweck, wie
Deine Mama sehr treffend bemerkt. . .“
Ich verstand mit einem Male, warum ich
täglich zwei Becher trinken und im Walde
umherlaufen muss . . . Als Mama wieder
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Schwankende Ideale
(Ein Monolog in vier Anzügen)
Von Julian IVeiss.
(Morgenanzug: Rock und lange Blouse
aus weissem Pique, welche von einem
rosafarbenen Gürtel zusammengehalten
wird. Goldkäferchenschuhe und rosafarbene
Strümpfe.)
. . . Wie lange dauert es doch, bis ein
Mädchen sechzehn Jahre alt wird und wie
schnell wird es dann älter! .... Vor
meinem sechzehnten Geburtstag behan-
delte man mich wie ein Kind. Man wagte
das Wort Hochzeit niemals vor mir aus-
zusprechen, ja Papa wollte nicht einmal
das Wort Mitgift in den Mund nehmen. . .
Der Einzige, der mir stets vom Heiraten
sprach, war mein Cousin Emil, der mich
heimlich andichtete und anrauchte. Seine
Cigarren imponirten mir weit mehr als
seine Verse . . . Wenn ich mit ihm im
Garten spazieren ging und er mir die
rauchenden Reime ins Gesicht blies, ward
mir ganz eigenthümlich um’s Herz und
ich versprach ihm, seine Frau zu werden,
so bald er nur Advokat geworden sei . . .
Freilich dürfte dies lange währen. Emil
hat nämlich eine besondere Vorliebe für
das Gymnasium; er kann sich von dem-
selben gar nicht trennen und bleibt in
jeder Klasse, die ihm ganz besonders ge-
fällt, zwei Jahre. Wenn er mit ebensolcher
Anhänglichkeit auf den Bänken der Uni-
versität sitzen bleiben sollte, wird mir
trotz seiner Anhänglichkeit dasselbe Schick-
sal beschieden sein . . . Und doch ist er
ein reizender junger Mann . . . Seine
hübschen Augen, aus welchen mir sein
gutes Herz entgegenlacht . . . seine rei-
zenden Verse, welche mir gewidmet sind
. . . und die ehrerbietige Art, mit welcher
er stets zu mir spricht, obwohl er um
ein ganzes Jahr älter ist, all’ das ist ent-
zückend, ja geradezu ideal! Man muss
ihn lieb haben . . . Jetzt allerdings ver-
scheucht man ihn förmlich aus dem Hause.
Papa behauptet, er sei verschlafen wie das
Pferd einer Nachtdroschke — Papa liebt
die drastischen Gleichnisse —, während
Mama sagt, Emil wäre kein Umgang für
mich, denn ich sei jetzt ein grosses Mäd-
chen und er ein kleiner Junge . . . Ich
besässe ein langes Kleid und er trüge zu
kurze Pantalons, meint Mama ... In
der That habe ich das ersehnte lange
Kleid bekommen, das freilich noch nicht
die ersehnte Länge hat... Hoffentlich wird
es so rasch wachsen, wie ich selbst...
Denn jetzt spricht man vor mir von allen
möglichen Hochzeiten der Welt und ge-
stattet sogar, dass ich mitrede . . . Son-
derbar, früher ärgerte sich Papa und
Mama, wenn ich das Vernünftigste über
die Ehe sagte und jetzt lächeln sie mir
aufmunternd zu, wenn ich das Einfältigste
ausspreche . . . Nicht umsonst sehnt sich
ein junges Mädchen darnach, sechzehn
Jahre alt zu werden . . . Ich kann jetzt
reden, was mir einfällt, ja selbst reden,
wenn mir nichts einfällt, denn es werden
isich immer Zuhörer finden, die davon
entzückt sind . . . Die Redefreiheit ist
kein leerer Wahn . . . Der arme Emil
freilich darf überhaupt nichts mehr sagen,
denn er wird stets von Papa zur Ordnung
gerufen ... Er ist ganz niedergeschlagen,
raucht nur in der Küche vor den Dienst-
boten — er braucht nämlich immer ein
Auditorium dazu — und hat kaum den
Muth, Verse zu machen ... Er sieht
tieftraurig aus und es thut mir weh, wenn
ich ihn zerstört umherirren sehe . . .
Freilich sollte er ein wenig tapferer sein,
denn schliesslich ist er siebzehn Jahre
alt und lässt sich bereits rasiren — wie
er wenigstens in einem verzweifelten
Briefe an mich schrieb.
II.
(Strandtoilette: Kirschrothes Kleid aus
geripptem Crepe mit Spitzenkragen; gros-
ser Schirm, riesiger Florentiner mit
Rosetten aus rothem Sammt.)
... Hier in diesem Badeorte wäre es
unerträglich, wenn der junge Poet mit den
langen Haaren — man könnte ihm wahr-
haftig eine Nausikaa-Frisur flechten —
uns jungen Mädchen nicht Fensterprome-
naden machen würde ... Anfangs verspot-
tete ich den Dichter (es sind wahrhaftig
zwei Bände Gedichte von ihm im Selbst-
verläge erschienen!) und behauptete, dass
derselbe von der Kurdirektion angestellt
wurde, vor den Hotels auf und nieder zu
gehen, um darüber zu wachen, dass die
jungen Damen in der Verzweiflung der
Langweile nicht durchgehen . .. Doch seit-
dem ich wahrnahm, dass mich der Poet
viel freundlicher grüsst, als die Andern,
seitdem er mir seine Gedichte widmete,
sehe ich ein, dass ich ihn falsch beur-
theilte ... Er ist ein reizender Mensch!...
Wenn er mitten im Kursaale stehen bleibt,
sich mit der Hand durch die künstlerisch
ungepflegte Löwenmähne fährt — Frisur
ä la minute — und dann wie im Traume
weiter schreitet, imponirt er ungeheuer...
Er soll ein Wiener sein, aber während
man ihn daheim nicht beachtet, steht er
hier im Vordergrund des Interesses. Der
Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande
und der Poet weit mehr in einem Bade-
orte, als in seiner Vaterstadt... Mama
meint, dass er keine Gesellschaft für uns
sei, aber ich finde ihn anziehender, als
die alten Gecken, die sich über seinen
Haarwuchs lustig machen, weil sie selbst
keine Haare mehr haben... Auch die
übrigen jungen Damen finden ihn be-
wunderungswerth, ja ideal... Ida behaup-
tet, dass er Heine ähnlich wäre, Klara be-
theuert, er erinnere an den jungen Goethe,
wie er von Kaulbach gemalt wurde. (Wo
sie das nur gelesen haben mag?) Elsa
schwört, dass er an die George Sand ge-
mahne — nur weiblicher aussähe....
Mich zeichnet er immer ganz besonders
aus; er liest mir seine Gedichte vor...
Armer Emil! Wie klein bist Du neben
diesem Geistesriesen . . . Und wie er da-
bei die Augen auf- und niederschlägt . . .
Man hört die Lider förmlich klappen . . .
Lider ohne Worte . . . Mama ist ungedul
dig; sie will fort und so oft sich mir der
Poet nähert, zieht sie mich bei Seite und
sagt: „Wir werden abreisen . . . Das Ganze
hat keinen rechten Zweck . . .“ In eine
Erklärung dieser mysteriösen Worte wollte
sie sich nicht einlassen . . . Ich fragte Ida,
die schon seit sechs Jahren in allen euro-
päischen Kurorten umherreist und sich
alle möglichen irdischen Leiden angebadet
hat, was denn der Missmuth meiner Mama
zu bedeuten hätte. „Du Kind,“ entgeg-
nen Ida, „weisst Du denn nicht, dass man
uns in den Kurorten spazieren führt, um
uns zu verheiraten? Ich habe kalt und
warm gebadet, bin in Salzwasser gelegen,
im Schlamme gesessen und barfuss ge-
laufen, habe saures, süsses und bitteres
Wasser getrunken und eile wie eine ewige
Jüdin von einem Bad zum andern — aber
das Ganze hat keinen rechten Zweck, wie
Deine Mama sehr treffend bemerkt. . .“
Ich verstand mit einem Male, warum ich
täglich zwei Becher trinken und im Walde
umherlaufen muss . . . Als Mama wieder
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