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Nr. 10

JUGEND

1897

Ser Zwischenruf

von Wilhelm Jensen, mit einer Zeichnung von Angelo Jank

Ilm die Pfingstzeit war ein Vergnügungszug mit
mehr als einem halben Tausend von Theilnehmern,
zumeist Bürgern eines Nachbarortes in Begleitung ihrer
Frauen und Kinder, am frühen Vormittag in einer
grösseren Stadt cingetrossen. Man nahm die Sehens-
würdigkeiten in Augenschein, besuchte Verwandte und
befreundete Familien, stieg zu den Anhöhen um die schön
gelegene Stadt hinauf. Der Tag wurde äußerst heiß und
drückend, so daß die ungewohnten Anstrengungen im
Freien mehr Durst als Hunger erzeugten: fast sämmtlich
brachten die Ausflügler den langen Nachmittag in schatti-
gen Wirthsgärten zu, man hörte laute Reden, Lachen
und Gesang, das Klappern von Bierkrügen und Klingen
von Weingläsern. Der allgemeine Frohsinn ging mit
dem Fortschritt der Stunden zu lärmender Lustigkeit über;
es war ein Fehler, daß dem Zugpersonal gestattet wurde,
deu Tag in der gleichen Weise zu verbringen.

Die Rückfahrt fand mit dem Anbruch der Dunkel-
heit statt, welche früher, als der Jahreszeit entsprechend,
eintrat, so daß die Lampen des Bahnsteigs bereits an-
gezündet werden mußten. Unter starkem Drängen und
Stoßen wurden die Wagen besetzt, aus denen ein hundert-
fältiges Durcheinander sich zurufender, singender und
schreiender Stimmen erscholl; ein paar zur Erwartung
eines anderen Zuges auf dem Perron Anwesende tauschten
halblachende Bemerkungen aus: „Die werden gut schlafen
heut' Nacht. — Und morgen ziemlich gleichmäßig von
einem Trommelgewirbel im Kopf auswachcn. — Der
Himmel scheint übrigens auch ein Trommelkonzert mit
Feuerwerk vorzubereiten. — Davon iverden sie nicht viel
hören und sehen."

Endlich waren alle Thüren geschlossen, die Pfeife
des Zugführers schrillte, und der übermäßig lange Zug
setzte sich in Bewegung. Als er die Bahnhofshalle ver-
ließ, gerieth er schon in völlige Finsterniß, eine schwarze
Wolkenmasse überdeckte den Himmel, Regen begann in
die Fenster zu schlagen und nöthigte, diese zuzumachen.
In den geschlossenen Räumen lagerte eine schwüle, be-
täubende Lust, Frauen klagten, es sei zum Ersticken, doch
die Männer lachten: „Warum habt ihr nicht besser ge-
trunken, dann hieltet ihr's das kurze Stück schon aus."

Der Zug schnaubte durch die Nacht, schwarze Wald-
wände faßten zu beiden Seiten den Schienenstrang ein.
Doch ward das Dunkel jetzt fast unablässig von blauen
und gelben Flammen durchzuckt; prasselnd schoß es auf
die Wagendecken nieder, Sturmgetöse übertäubte das
Rasseln des Zugs, Knattern, Krachen und Poltern des
Donners stürzteir dazwischen. Ein ungeheurer Wetter-
ausbruch war's nach dem heißen Tag.

In einer Wagcnabtheilung, wo das Wasser von
oben durchlief, jammerte eine Frau: ,>Jch kriege Flecken
in mein neues Kleid, bitte, lassen Sie mich aus Ihren
Platz." Ihr Gegenüber knurrte etwas: „Meinen Sie,
mir macht die Traufe Spaß, daß mein Kopf sie »oth-
wendig hat? Aber weil Sie's sind, Frau Nachbarin —"

Er stand aus und taumelte. „Mich dünkt, der Zrlg
fährt höllisch rasch —".

„Ja, es geht hier hinunter," antwortete Jemand.

Das war der Fall, auf einer etwas geneigten Ebene
senkte sich das Geleis. Der Mann und die Frau standen,
ihre Plätze zu wechseln und das neue Kleid zu schonen.

Plötzlich fuhren sie mit den Köpfen wider einander
und um sie her schlüge» zerkrachend und zersplitternd
die Holzwände, während eines Athemzugs fast alles
Menschenleben in dem Wagen auslöschcnd. Ein furcht-
barer Stoß, die entgleiste Lokomotive wühlte sich, ab-
gestürzt, in einen schlammigen Moorgrund, alle Wagen,
in rasendem Laufe jäh zum Stocken gebracht, bäumten sich,
zerberstend wie Glas, gegen- und übereinander oder
schlugen vom erhöhten Bahndamm nieder. Alles in

strömenden Wolkenbruch, Windgeheul, wech-
selnd undurchdringliche Finsterniß und grelle
Blitzschlaghelle eingehüllt, lind nun auf weiter
Strecke Stöhnen, Acchzen, Hilferufe, irrsinnige
Schreie des Jammers uird der Verzweiflung.

Stunden vergingen, ehe Nachricht in die
Stadt znrückgelangte und Beistand eintraf,
der vielfach auf kaum überwindbare Schwierig-
keiten stieß. Der fortdauernde Regen löschte
die Fackeln aus, die Wagentrümmer waren
zu einem ungeheuren Chaos gcthürmt und
verflochten, aus dessen Inneren Stimmen
Schwcrverwnndeteruud Erstickender umHilfe,
viele nur nach einer Erlösung von ihren
Leiden riefen, Zugreifende Hände leisteten
das irgend Mögliche, die Aerzte vollzogen
dringliche Amputationen, legten Verbände an,
das Meiste mußte bis zum Anbruch des Morgens hinaus-
geschoben werden. Diejenigen, welche, ohne zur Besinnung
zu kommen, was geschehen, jählings durch Zerschmetterung
den Tod gefunden, hatten das günstigste Loos gezogen,
entsetzliche Stunden und Tage martcrvoller Verzögerung
des unabwendbaren Endes harrten ungefähr der gleichen
Anzahl. Mehrere Hunderte von Tobten und tödtlich
Verletzten brachte man in die Stadt; ganze Familien
waren weggerafft, fast jeglicher eines der Seinigen be-
raubt, Frauen zu Wittwcn geworden, hilflose Waisen
zurückgeblieben. In thrttnenlvser dumpfer Starre nahmen
die Ueberlebenden die ihnen bereitete Fürsorge an.

Welche Ursache das Unglück veranlaßt habe, ließ sich
kaum durch Untersuchung feststellen: der Zug- und Loko-
motivführer, Heizer, beinahe sämmtliche Bedienstete waren
mit getödtet oder erlagen bald in Bewußtlosigkeit ihren
Wunden. Es ergab sich nur, der Zug sei zu schwer ge-
wesen und wahrscheinlich zu schnell gefahren worden,
zumal bei der Gefährlichkeit der abwärts geneigten Bahn-
strecke. Die Wagen waren niederrollend zum Druck aus-
einander gerathen, und die mit der Bremsung Betrauten
hatten dies unglücklicher Weise zum Theil bemerkt, doch
zu audercm Theil nicht, die vorderen Wagen angehalten,
dagegen nicht die Hinteren, welche so mit voller Wucht
über die verlangsamten hingestürmt tvaren. Ob das furcht-
bare Unwetter ertheilte Anordnungen unverständlich
gemacht, die Schaffner durch dasselbe den Kopf verloren,
oder schon vorher nicht recht im Besitz klarer Sinne ge-
wesen, ließ sich so wenig mehr deutlich entscheiden, wie die
Frage, was den Lokomotivführer verhindert habe, die
übermäßig starte Beschleunigung der Fahrt zu erkennen.

Als sich die Kunde in der Stadt allgemein ver-
breitete, legte sich auch auf fast alle Hörer eine dumpfe
Starre. Viele hatten Verwandte oder Befreundete ver-
loren, sahen sich in besondere Trauer gestürzt. Aber
nicht dies gab der alle ergreifenden Gemüthsstiiumung
ihr Gepräge, sondern ein gleichmäßiger Schreck. Eine
Wirkung hatte stattgefunden, wie von einem, den festesten
Grund erschütternden, jedes drauf errichtete Bauwerk
zerstörenden Erdbeben. Die Leute tauschten mechanisch
untereinander aus, was sie über den Vorgang erfahren;
doch danach sahen sie sich wortlos an, und der gleiche
ungesprochene Gedanke lag in ihrem Blick.

An dieser allgemeinen, sich in Schweigen einhüllcn-
den Bestürzung und Betäubung nahm während des
ersten Tages auch die Geistlichkeit der Stadt theil. Die
Pfarrer vermieden, nicht nur den Laien gegenüber,
sondern ebenfalls unter sich, Aeußeruugen über das
Ungliid zu thun. Sie hielten sich zu Hause oder schritten,
zu einem Ausgang genöthigt, rasch mit gesenktem Kopf
durch die Straßen, wie von einer Scheu befallen, ge-
sehen und angeredet zu iverden. Erst am folgenden
Abend nach Eintritt der Dunkelheit versammelten sie sich
hinter geschlossenen Kirchenthürcir in einer Sakristei.

Am Vormittag danach >vnr die Massen-Becrdigung
der Todten auf dem Friedhof anbcrauint, und eine
nach manchen Tausenden zählende Menge aller Stünde
fand sich dazu ein. Mit der Begräbnißrede war ein
besonders nach der rhetorischen Seite veranlagter Pre-

Otto Eckmanti (München).
Register
Wilhelm Jensen: Der Zwischenruf
Otto Eckmann: Ornamentzeichnung
 
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