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Nr. 21

JUGEND

1897

„Das Leeste?"

„Ja, das Allerbeste, was das Glück ge-
währen kann!"

Die schönen Augen des Glückes, bisher so
bla», so lockend wie das Neer im Sonnen-
scheine, wurden mit einem Male drohend und
dunkel wie die See, wenn Gewitterwolken
darüber hinziehen.

„Das Allerbeste — allein —" sprach es
zögernd, ernst; dann aber fuhr es mit schlauein
Lächeln fort: „allein da mußt Du mich küssen I"

„Dich küssen?" rief der Einsiedel. „Nein,
nein! Ich habe längst entsagt — Dich küssen?
— Niemals!"

Er wandte dem Glücke den Rücken und
ging zum Kreuze, um zu beten. Seine Ge-
danken aber flatterten wie eine Schaar auf-
gcschenchter Vögel auseinander, er betete zer-
streut, erhob sich bald und ging in den Wald.
Doch auch hier fand er nicht Ruhe noch Samm-
lung; nachdenklich kehrte er um die Mittags-

zeit zur Einsiedelei zurück. Da fand er das
Glück schlafend auf schwellendem Mohn; den
schönen Kopf auf den Arm, von dem der weite
Aermel herabgeglitten war, gelehnt, lächelte
es im Schlafe.

Der Klausner blieb stehen utid blickte spähend
nach allen Seiten.

„Das Allerbeste —" sprach er leise. „Das
Leben ist ohnehin nur eine lange Kette von
Leiden und cs ist gewiß keine Sünde, aller
Daseinsqualen ledig sein zu wollen — das
höchste Glück zu ivünschen —"

Er machte vorsichtig einen Schritt vorwärts.

„Aber einen Kuß —" sprach er wieder zu
sich selbst, abermals stehen bleibend. „Ach, es
sieht es ja niemand und die Schlafende selbst
wird es nicht merken, weirn ich leise, ganz
leise — "

G, Einsiedel, Einsiedel! kjandelt so ein
Mann, der entsagt hat? Schämst Du Dich
nicht?

Schnell hat er die Schuhe abgcstreift, rafft
sein Kleid zusammen und schleicht sich auf
den Zehen durch die Büsche, leise, ganz
leise zu dem schlafenden Glücke hin. Die
Rosenzweige fassen sein Gewand mit ihren
Dornen und wollen ihn zurückhalten. Er aber
macht sich los und schleicht weiter.

Jetzt steht er vor dem Glücke, wie schön
ist es auch in seinem Schlummer: Die zarten
Wangen sind leicht geröthet, die vollen Lippen
ein wettig geöffnet, daß die weißen Zähne
hervorschimmern.

Der Alte zögert eilt Weilchen; dann aber
streift er seinen langen Bart zurück, beugt sich
behutsam über die Schläferin und berührt mit
seinem Munde leicht ihre Lippen — und da
hat er auch schon das Allerbeste: mit einem
seligen Lächeln sinkt er neben dem aufgeschreck-
ten Glücke — todt nieder. — —

Theodor Airchner.


Bilder aus dem Kadettenhaus

von Eduard Goldbeck (Berlin), mit Zeichnungen von Rud. Wilke (München)

II. Theil »

Schlafsaalstreiche

In jedem Jahr erscheint einmal
Zur Inspektion der General,

Wobei er in die Stuben guckt
Und stattliche Diäten schluckt.

Die fleischgeword’ne Katastrophe
Spaziert auf dem geräum’gen Hofe
Und weiss durch feingestellte Fragen
Mit pädagogischem Behagen
Die derbsten Buben einzuschüchtern
Und selbst den Stabsarzt zu er-
nüchtern.

Der wack’re ärztliche Berather
Erblickt in ihm nur einen Krater,
Der, wie bekannt, von Zeit zu Zeit
Gewohnheitsmässig Feuer speit.

Doch der Major, nicht ohne Plan,
Hofirt den wandernden Vulkan
Und lässt ihn, wie die Eumeniden,
Nicht einen Augenblick in Frieden.
Er haftet, offen und verstohlen,

Dem Inspekteur sich an die Sohlen
Und hält am liebsten den Orest
Recht lange im Kasino fest.

Doch endlich reist der General. —
Nach dieser letzten Tage Qual
Gedenkt der Herr Major zu ruh’n
Und einen langen Schlaf zu thun.
Doch währt er kaum dreiviertel Jahr,
Dann droht von Neuem die Gefahr.
Der Herr Major zeigt sich gereizt,
Wenn man die Klassen nicht mehr

heizt

Und wenn der Frühlingssturm ertost,
Dann zeigt sich der Major erbost,
Doch weh’n die Lüfte weich und

lenzlich,

O weh! Dann wird die Sache brenzlich!
In Flur und Halde keimt es leise,
Der Herr Gen’ral geht auf die Reise,

Und regt sich junges Grün im Wald,
Besichtigt er die Voranstalt.

Das erste Blümchen, das da sprosst,
Bringt dem Major die Hiobspost.

Sonst schläft der hohe Offizier
Geruhig wie ein Murmelthier,

Doch jetzt erhebt er sich um vier
Und tobt im Kompagnierevier.

Er pustet Staub von Bank und

Schrank,

Weiss Gott, er wird noch lungen-
krank !

Und in Voraussicht jedes Falles
Monirt, probirt, markirt wird Alles.
Es gilt, mit immer neuen Kniffen
Den Vorgesetzten zu verblüffen,
Damit der mächt’ge Mann sich dann
Im nächsten Vorkorps wundern kann

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Index
Rudolf Wilke: Zeichnungen zum Text "Bilder aus dem Kadettenhaus"
Eduard Goldbeck: Bilder aus dem Kadettenhaus
 
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