Nr. 24
JUGEND
1897
I
Von Victor Ottmann
„Wenn wir das Getriebe der Welt betrachten,"
finjte mein Freund Julius Nolte mit einem ge-
wissen Pathos, „so sehen wir, wie in den nn-
scheinbarsten Dingen die Keime großer, unerhörter
Ereignisse schlummern. Piccolo, einen Cognac!"
„Was Du da bemerkst, mein theurer Julius,
ist gerade nicht ganz neu, aber in Deinem Munde
gewinnt es einen neuen Reiz. Also bitte, fahre
fort!"
„Du siehst diese Kravatte?"
„Natürlich!"
„Du findest nichts Auffälliges daran?"
„Mein Gott, sie ist blau mit rvthen Tupfen
— ein sogenannter Selbstbinder . . ."
„Ein sogenannter Selbstbinder, jawohl!" Und
er schlug auf den Tisch, so laut, daß der Piccolo
vor Schreck einen Billardball fallen ließ.
Dann erzählte er:
„Es sind acht Tage her, da ging ich ans,
mir eine Kravatte zu kaufen. Alan braucht nicht
lange zu suchen, um Kravatten zu finden, denn
aus der ungeheuren Anzahl der Geschäfte zu
schließen, muß der Bedarf an Kravatten enorm
sein. Ich bleide also vor einem Laden stehen und
gehe hinein. Ein hübsches Mädchen fragt nach
meinen Wünschen. Laut und deutlich sage ich:
,Jch mochte eine Kravatte haben/ "
„Lang oder quer?" Und sie demonstrirte mit
graziöser Handbewegung, was sie damit aus-
drücken wollte.
„Laug," sage ich ruhig, nncrschülterlich.
„Zum Selvstbinden, nicht wahr?"
Eine visionäre Ahnung steigt bei diesen
verhängnißvollen Worten in mir auf, ich zaudere
einen Augenblick, sage aber dennoch: „In!"
Sie häuft Schachteln über Schachteln und entfaltet vor meinen
Augen eine nnsinnigc Menge von Kravatten, schwarze, weiße, blaue,
gelbe, rothc, grüne ü. s. w. Ich stehe ivie der Blinde vor der Farbe und
kann mich nicht entschließen. Da hält sie mir dieses unselige Ding, das
da hier ruht, vor die Nase und sagt: „Ein reizendes Dessin, nicht wahr?"
Sie hat eine Art, „nicht wahr?" zu sagen, daß mau umuögiich
widersprechen kann. Ich sage also: „Ja, geben Sie mir diese. Aber,
Ivie bindet man sie?"
„O, das ist ganz einfach. Sehen Sie, so: erst das lange Ende über
das kurze, dann hier rechts herum, dann dort links herum, dann nach
oben, dann nach unten, nachher einmal umschlungen, dann wieder nach
oben, dann zweimal umschlungen, dann eine Schleife — ganz einfach!"
Und während sie spricht, huschen ihre Fingerchen — weiche, schlaicke
Finger, die Finger einer Prinzessin — hin und her und krabbeln mir
am Kinn, daß ich beinahe Gedanken bekommen hätte — Gedanken
Ich sage: „Ja, die will ich nehmen." Dann
dcponire ich vier Mark auf dem Ladentische und
gehe nach Hanse.
Zu Hatise angclangt, schließe ich mich in
mein Zimmer ein, denn ich liebe es nicht, bei
ivichtigen Angelegenheiten genört zu werden.
Ich packe die Kravatte aus und versuche, sie um-
zubiudcn.
Wie war cs doch gleich? Richtig! Das kurze
Ende über das lange, dann links herum, dann
rechts herum, dann in der Milte durch — unmög-
lich, da geht die ganze Geschichte wieder auf! Also:
Das lange Ende über das kurze, rechts herum,
in der Mitte durch, eine Schleife — Unsinn!
Erst nach oben, dann nach unten, dann links —
wird ebenfalls nichts! Also vielleicht erst eine
Schleife, dann nach unten, dann rechts — aber
das ist wirklich zum wahnsinnig werden! Ich
befördere wahre Mißgeburten von Kravatten zu
Tage, unerhörte Scheusale, die jedem Panopti-
kum zur Zierde gereicht hätten, hohnlnchende
Caricaturen! ts
Mir beginnen die Hände vor Aufregung zu
zittern. Ich zerre wüthcnd bald an diesem, bald
an jenem Ende. Der Schlveiß perlt mir auf
der Stirne. Da —
Ein Gedanke durchzuckt mein Hirn, ein veri-
tabler Gedanke: Die Wirthin! Ich schließe die
Thüre auf und rufe: „Frau Krampl!" Frau
Krampl erscheint. Sie tritt in mein Zimnier.
Ich schließe die Thüre hinter ihr ab und lege
mein Dvlchmesser auf den Tisch, mit der ent-
schiedenen Miene eines Mannes, der mit dem
Leben abgeschlossen hat und weder vor Ja, noch
vor Rein zittert. Es ist ein schönes, scharfes,
spitzes Messer, ich habe es in Mailand gekauft.
Ich lege also den Dolch auf den Tisch und frage
mit Festigkeit:
Theo Schmu^-Bauiliss (München).
„Sehen Sie diesen Dolch und diese Kravatte? Gut! Wenn Sie mir
nun nicht binnen fünf Bierminuten die Kravatte vorschriftsmäßig an-
gelegt haben, iverden die Zeitungen morgen von einer gräßlichen Blnt-
tyat zu berichten wissen."
Die arme Frau beginnt stark zu zittern und sinkt auf einen Stuhl und
schreit: „Hilfe, Hilfe! Er ist verrückt geworden! Er will mich umbringen!"
„Ja wohl," sage ich kalt und unbewegt, „ich iverde Sie morden, wenn
Sie mir nicht sofort die Kravatte binden. Also, stehen Sie auf! — das
rechte Ende über das iinke, dann das linke über das rechte, dann in der
Mitte durch — vorwärts!"
„Aber liebster, bester Herr von Rotte, lassen Sie mich aus, ich
habe fünf unversorgte Kinder, ich bin vcrhcirathet —!"
„Das ist ein Malheur." sage ich unerschütterlich, „aber schließlich
gibt'S noch AergereS auf der Welt. Beeilen Sie sich, oder Sie werden
„Klinge, kleines Frühlingslied!"
den Anschluß an die Ewigkeit nur zu schnell erreichen!"
Was soll ich Dir sagen? Sie beginnt mit ihren
bebenden Fingern an meinem Halse zu hantircn,
sie zieht hier, zieht dort, ich siirchle schon, sie wolle
mich erdrosseln, ihre Wangen glühen in fieber-
hafter Röthe, ihre Zähne schlagen Generalmarsch
und dieses bcjammerungstvcrthe Angstprodnkt
bringt nichts zu stände, nichts außer denselben
scheußlichen Zerrbildern einer Kravatte!
Sic glaubt in meinen Blicken, die ich drohend
in die ihrigen bohre, einen entsetzlichen Einschluß
zu lesen ... Da plötzlich kommt cs über sie ivie
Erleuchtung und ganz ruhig sagte sie: „Herr von
Nolte, ivas ivürde es Ihnen nützen, wenn Sie
mich jetzt umbrächtcn, ohne daß die Kravatte ge-
bunden wäre? Sie tvärcn dann so hilflos ivie zu-
vor und hätten obendrein einen Mord aus dem
Geivisseu. Man würde Sic entiveder zum Tode
vernrtheilen oder in's Irrenhaus sperren, und in
beiden Fällen kämen Sic nie in die Lage, diese
schöne Kravatte zu trage», Sie Hütten also drei bis
vier Mark direkt zum Fenster hinausgeworfen!"
Ich beuge mich vor der unerbittlichen Logik
der schlichten Frau und mir fällt cs lvie Schuppen
von den Augen. Ich stecke den Dolch ein, schließe
die Thüre auf und — eine Stunde später be-
finde ich mich in Folge außerordentlicher Kündig-
ung auf der Straße mit dem unglückseligen
Selbstbinder in der Hand.
Ein Unglück kommt bekanntlich nie allein.
Ich sage mir: wer die Kravatte verkauft hat, der
kann sie auch binden. Ich gehe zu der jungen
Dame in jenem Laden. Sie bindet mir die
Kravatte. Sie findet Gefallen an mir. Sie
macht mir Avancen. Abends gehen wir in's
Kolosseum. Heute hat sie sich mit mir verlobt.
Ja, ein Unglück kommt selten allein ..."
Und mein Freund Julius lächelte melan-
cholisch.
M. Kleiter (München).
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Von Victor Ottmann
„Wenn wir das Getriebe der Welt betrachten,"
finjte mein Freund Julius Nolte mit einem ge-
wissen Pathos, „so sehen wir, wie in den nn-
scheinbarsten Dingen die Keime großer, unerhörter
Ereignisse schlummern. Piccolo, einen Cognac!"
„Was Du da bemerkst, mein theurer Julius,
ist gerade nicht ganz neu, aber in Deinem Munde
gewinnt es einen neuen Reiz. Also bitte, fahre
fort!"
„Du siehst diese Kravatte?"
„Natürlich!"
„Du findest nichts Auffälliges daran?"
„Mein Gott, sie ist blau mit rvthen Tupfen
— ein sogenannter Selbstbinder . . ."
„Ein sogenannter Selbstbinder, jawohl!" Und
er schlug auf den Tisch, so laut, daß der Piccolo
vor Schreck einen Billardball fallen ließ.
Dann erzählte er:
„Es sind acht Tage her, da ging ich ans,
mir eine Kravatte zu kaufen. Alan braucht nicht
lange zu suchen, um Kravatten zu finden, denn
aus der ungeheuren Anzahl der Geschäfte zu
schließen, muß der Bedarf an Kravatten enorm
sein. Ich bleide also vor einem Laden stehen und
gehe hinein. Ein hübsches Mädchen fragt nach
meinen Wünschen. Laut und deutlich sage ich:
,Jch mochte eine Kravatte haben/ "
„Lang oder quer?" Und sie demonstrirte mit
graziöser Handbewegung, was sie damit aus-
drücken wollte.
„Laug," sage ich ruhig, nncrschülterlich.
„Zum Selvstbinden, nicht wahr?"
Eine visionäre Ahnung steigt bei diesen
verhängnißvollen Worten in mir auf, ich zaudere
einen Augenblick, sage aber dennoch: „In!"
Sie häuft Schachteln über Schachteln und entfaltet vor meinen
Augen eine nnsinnigc Menge von Kravatten, schwarze, weiße, blaue,
gelbe, rothc, grüne ü. s. w. Ich stehe ivie der Blinde vor der Farbe und
kann mich nicht entschließen. Da hält sie mir dieses unselige Ding, das
da hier ruht, vor die Nase und sagt: „Ein reizendes Dessin, nicht wahr?"
Sie hat eine Art, „nicht wahr?" zu sagen, daß mau umuögiich
widersprechen kann. Ich sage also: „Ja, geben Sie mir diese. Aber,
Ivie bindet man sie?"
„O, das ist ganz einfach. Sehen Sie, so: erst das lange Ende über
das kurze, dann hier rechts herum, dann dort links herum, dann nach
oben, dann nach unten, nachher einmal umschlungen, dann wieder nach
oben, dann zweimal umschlungen, dann eine Schleife — ganz einfach!"
Und während sie spricht, huschen ihre Fingerchen — weiche, schlaicke
Finger, die Finger einer Prinzessin — hin und her und krabbeln mir
am Kinn, daß ich beinahe Gedanken bekommen hätte — Gedanken
Ich sage: „Ja, die will ich nehmen." Dann
dcponire ich vier Mark auf dem Ladentische und
gehe nach Hanse.
Zu Hatise angclangt, schließe ich mich in
mein Zimmer ein, denn ich liebe es nicht, bei
ivichtigen Angelegenheiten genört zu werden.
Ich packe die Kravatte aus und versuche, sie um-
zubiudcn.
Wie war cs doch gleich? Richtig! Das kurze
Ende über das lange, dann links herum, dann
rechts herum, dann in der Milte durch — unmög-
lich, da geht die ganze Geschichte wieder auf! Also:
Das lange Ende über das kurze, rechts herum,
in der Mitte durch, eine Schleife — Unsinn!
Erst nach oben, dann nach unten, dann links —
wird ebenfalls nichts! Also vielleicht erst eine
Schleife, dann nach unten, dann rechts — aber
das ist wirklich zum wahnsinnig werden! Ich
befördere wahre Mißgeburten von Kravatten zu
Tage, unerhörte Scheusale, die jedem Panopti-
kum zur Zierde gereicht hätten, hohnlnchende
Caricaturen! ts
Mir beginnen die Hände vor Aufregung zu
zittern. Ich zerre wüthcnd bald an diesem, bald
an jenem Ende. Der Schlveiß perlt mir auf
der Stirne. Da —
Ein Gedanke durchzuckt mein Hirn, ein veri-
tabler Gedanke: Die Wirthin! Ich schließe die
Thüre auf und rufe: „Frau Krampl!" Frau
Krampl erscheint. Sie tritt in mein Zimnier.
Ich schließe die Thüre hinter ihr ab und lege
mein Dvlchmesser auf den Tisch, mit der ent-
schiedenen Miene eines Mannes, der mit dem
Leben abgeschlossen hat und weder vor Ja, noch
vor Rein zittert. Es ist ein schönes, scharfes,
spitzes Messer, ich habe es in Mailand gekauft.
Ich lege also den Dolch auf den Tisch und frage
mit Festigkeit:
Theo Schmu^-Bauiliss (München).
„Sehen Sie diesen Dolch und diese Kravatte? Gut! Wenn Sie mir
nun nicht binnen fünf Bierminuten die Kravatte vorschriftsmäßig an-
gelegt haben, iverden die Zeitungen morgen von einer gräßlichen Blnt-
tyat zu berichten wissen."
Die arme Frau beginnt stark zu zittern und sinkt auf einen Stuhl und
schreit: „Hilfe, Hilfe! Er ist verrückt geworden! Er will mich umbringen!"
„Ja wohl," sage ich kalt und unbewegt, „ich iverde Sie morden, wenn
Sie mir nicht sofort die Kravatte binden. Also, stehen Sie auf! — das
rechte Ende über das iinke, dann das linke über das rechte, dann in der
Mitte durch — vorwärts!"
„Aber liebster, bester Herr von Rotte, lassen Sie mich aus, ich
habe fünf unversorgte Kinder, ich bin vcrhcirathet —!"
„Das ist ein Malheur." sage ich unerschütterlich, „aber schließlich
gibt'S noch AergereS auf der Welt. Beeilen Sie sich, oder Sie werden
„Klinge, kleines Frühlingslied!"
den Anschluß an die Ewigkeit nur zu schnell erreichen!"
Was soll ich Dir sagen? Sie beginnt mit ihren
bebenden Fingern an meinem Halse zu hantircn,
sie zieht hier, zieht dort, ich siirchle schon, sie wolle
mich erdrosseln, ihre Wangen glühen in fieber-
hafter Röthe, ihre Zähne schlagen Generalmarsch
und dieses bcjammerungstvcrthe Angstprodnkt
bringt nichts zu stände, nichts außer denselben
scheußlichen Zerrbildern einer Kravatte!
Sic glaubt in meinen Blicken, die ich drohend
in die ihrigen bohre, einen entsetzlichen Einschluß
zu lesen ... Da plötzlich kommt cs über sie ivie
Erleuchtung und ganz ruhig sagte sie: „Herr von
Nolte, ivas ivürde es Ihnen nützen, wenn Sie
mich jetzt umbrächtcn, ohne daß die Kravatte ge-
bunden wäre? Sie tvärcn dann so hilflos ivie zu-
vor und hätten obendrein einen Mord aus dem
Geivisseu. Man würde Sic entiveder zum Tode
vernrtheilen oder in's Irrenhaus sperren, und in
beiden Fällen kämen Sic nie in die Lage, diese
schöne Kravatte zu trage», Sie Hütten also drei bis
vier Mark direkt zum Fenster hinausgeworfen!"
Ich beuge mich vor der unerbittlichen Logik
der schlichten Frau und mir fällt cs lvie Schuppen
von den Augen. Ich stecke den Dolch ein, schließe
die Thüre auf und — eine Stunde später be-
finde ich mich in Folge außerordentlicher Kündig-
ung auf der Straße mit dem unglückseligen
Selbstbinder in der Hand.
Ein Unglück kommt bekanntlich nie allein.
Ich sage mir: wer die Kravatte verkauft hat, der
kann sie auch binden. Ich gehe zu der jungen
Dame in jenem Laden. Sie bindet mir die
Kravatte. Sie findet Gefallen an mir. Sie
macht mir Avancen. Abends gehen wir in's
Kolosseum. Heute hat sie sich mit mir verlobt.
Ja, ein Unglück kommt selten allein ..."
Und mein Freund Julius lächelte melan-
cholisch.
M. Kleiter (München).
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