Nr. 26
JUGEND
1897
Ein neuer Todtentanz (II. Folge)
80 glitt er denn auch in das Leben
seiner Bruder- und Schwesterkinder hinein.
Die Liebe seiner Mutter hatte ihn zu einer
Grösse gemacht, und die Grossen wirken
und üben Einfluss von Geschlecht zu Ge-
schlecht. —
Schwester Bertha hatte einen Sohn, der
viel von Bruder Rüben zu hören bekam.
Als er vier Jahre alt war, sass er eines
Tages auf dem Trottoirrande und starrte
in den Rinnstein hinab, in dem das Regen-
wasser dahinströmte. Aber plötzlich wurde
sein nachdenkliches Schauen von seiner
Mutter unterbrochen, die in demselben
Augenblick, da sie ihn sah, an die Steintreppe
daheim und an den Bruder denken musste.
„Ach mein lieber Junge,“ sagte sie,
„sitze doch nicht so! Weisst Du, Deine
Mama hatte einen kleinen Bruder, der
Rüben hiess und gerade, wie Du, vier
Jahre alt war. Er starb, weil er auf solch’
einem Trottoirrande gesessen und sich
erkältet hatte.“
Dem Kleinen behagte es aber nicht,
gestört zu werden. Er blieb nachdenklich
sitzen.
Schwester Bertha hätte es sonst nicht
gethan, aber um ihres lieben Bruders
willen rüttelte sie ihren kleinen Jungen
äusserst unsanft. Und so begann er Re-
spekt vor Onkel Rüben zu bekommen.
Ein ander Mal war es diesem blond-
lockigen kleinen Kerl passiert, dass er
draussen auf dem Eise hingefallen war.
Er war aus reiner Böswilligkeit von einem
grossen, hässlichen Jungen umgestossen
worden, und da blieb er dann sitzen und
weinte, um recht zu zeigen, welches Un-
recht ihm geschehen wäre, um so mehr,
als seine Mutter nicht sehr weit entfernt
sein konnte.
Aber er hatte vergessen, dass seine
Mutter doch zuerst und vor Allem Onkel
Rubens Schwester war. Als sie daher
Axel auf dem Eise sitzen sah, sagte sie
nichts Tröstendes und Beruhigendes, son-
dern nur ihr Ewiges:
„Sitz da nicht so, mein lieber Junge!
Denk nur an Onkel Rüben, der starb, als er
fünf Jahre alt war, gerade wie Du jetzt, weil
ersieh in einen Schneehaufen gesetzt hatte.“
Der Junge stand sogleich auf, als er
von Onkel Rüben reden hörte; aber er
fühlte etwas Erkältendes bis in das Herz
hinein. Wie konnte Mama von Onkel
Rüben reden, wenn ihr kleiner Junge so
betrübt war. Um Axels willen mochte er
sich hinsetzen und sterben, wo es ihm
behagte; aber nun war es, als wenn dieser
Todte ihm seine liebe Mama rauben wollte,
und das konnte Axel nicht ertragen. So
lernte er Onkel Rüben hassen!
Hoch droben am Treppenaufgang in
Axels Elternhaus gab es eine Steinbalu-
strade, auf der es sich so herrlich in
schwindelnder Höhe sitzen liess. Tief
unten lag der Steinboden des Flurs, und
wer rittlings dort oben sass, konnte träu-
men, er ritte über Abgründe dahin. Axel
nannte die Balustrade das gute Ross Grane.
Auf seinem Rücken sprengte er über bren-
nende Brücken in das verzauberte Schloss
hinein. Dort sass er stolz und trotzig
und bekämpfte, wie St. Georg, den Drachen.
Und noch war es Onkel Rüben nicht ein-
gefallen, auch da reiten zu wollen.
Aber natürlich kam er. Gerade als
der Drache sich im Todeskampfe wand,
und Axel in stolzer Siegesgewissheit dort
oben sass, hörte er das Kindermädchen
rufen: „Axelchen, sitz da nicht! Denk
an Onkel Rüben, der starb, als er acht
Jahre alt war, wie Du, weil er auf einem
Steingeländer gesessen hatte. Da darfst
Du niemals sitzen, Axel.“
Ein neidischer alter Hansnarr, dieser
Onkel Rüben! Er wollte blos nicht haben,
dass Axel Drachen tödtete und Prinzes-
sinnen befreite. Er sollte sich nur in
Acht nehmen, denn Axel konnte wohl
zeigen, dass er aitch Ruhm zu gewin-
nen vermöchte. Wenn er hier auf den
Steinboden hinabsprang und sich todt-
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JUGEND
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Ein neuer Todtentanz (II. Folge)
80 glitt er denn auch in das Leben
seiner Bruder- und Schwesterkinder hinein.
Die Liebe seiner Mutter hatte ihn zu einer
Grösse gemacht, und die Grossen wirken
und üben Einfluss von Geschlecht zu Ge-
schlecht. —
Schwester Bertha hatte einen Sohn, der
viel von Bruder Rüben zu hören bekam.
Als er vier Jahre alt war, sass er eines
Tages auf dem Trottoirrande und starrte
in den Rinnstein hinab, in dem das Regen-
wasser dahinströmte. Aber plötzlich wurde
sein nachdenkliches Schauen von seiner
Mutter unterbrochen, die in demselben
Augenblick, da sie ihn sah, an die Steintreppe
daheim und an den Bruder denken musste.
„Ach mein lieber Junge,“ sagte sie,
„sitze doch nicht so! Weisst Du, Deine
Mama hatte einen kleinen Bruder, der
Rüben hiess und gerade, wie Du, vier
Jahre alt war. Er starb, weil er auf solch’
einem Trottoirrande gesessen und sich
erkältet hatte.“
Dem Kleinen behagte es aber nicht,
gestört zu werden. Er blieb nachdenklich
sitzen.
Schwester Bertha hätte es sonst nicht
gethan, aber um ihres lieben Bruders
willen rüttelte sie ihren kleinen Jungen
äusserst unsanft. Und so begann er Re-
spekt vor Onkel Rüben zu bekommen.
Ein ander Mal war es diesem blond-
lockigen kleinen Kerl passiert, dass er
draussen auf dem Eise hingefallen war.
Er war aus reiner Böswilligkeit von einem
grossen, hässlichen Jungen umgestossen
worden, und da blieb er dann sitzen und
weinte, um recht zu zeigen, welches Un-
recht ihm geschehen wäre, um so mehr,
als seine Mutter nicht sehr weit entfernt
sein konnte.
Aber er hatte vergessen, dass seine
Mutter doch zuerst und vor Allem Onkel
Rubens Schwester war. Als sie daher
Axel auf dem Eise sitzen sah, sagte sie
nichts Tröstendes und Beruhigendes, son-
dern nur ihr Ewiges:
„Sitz da nicht so, mein lieber Junge!
Denk nur an Onkel Rüben, der starb, als er
fünf Jahre alt war, gerade wie Du jetzt, weil
ersieh in einen Schneehaufen gesetzt hatte.“
Der Junge stand sogleich auf, als er
von Onkel Rüben reden hörte; aber er
fühlte etwas Erkältendes bis in das Herz
hinein. Wie konnte Mama von Onkel
Rüben reden, wenn ihr kleiner Junge so
betrübt war. Um Axels willen mochte er
sich hinsetzen und sterben, wo es ihm
behagte; aber nun war es, als wenn dieser
Todte ihm seine liebe Mama rauben wollte,
und das konnte Axel nicht ertragen. So
lernte er Onkel Rüben hassen!
Hoch droben am Treppenaufgang in
Axels Elternhaus gab es eine Steinbalu-
strade, auf der es sich so herrlich in
schwindelnder Höhe sitzen liess. Tief
unten lag der Steinboden des Flurs, und
wer rittlings dort oben sass, konnte träu-
men, er ritte über Abgründe dahin. Axel
nannte die Balustrade das gute Ross Grane.
Auf seinem Rücken sprengte er über bren-
nende Brücken in das verzauberte Schloss
hinein. Dort sass er stolz und trotzig
und bekämpfte, wie St. Georg, den Drachen.
Und noch war es Onkel Rüben nicht ein-
gefallen, auch da reiten zu wollen.
Aber natürlich kam er. Gerade als
der Drache sich im Todeskampfe wand,
und Axel in stolzer Siegesgewissheit dort
oben sass, hörte er das Kindermädchen
rufen: „Axelchen, sitz da nicht! Denk
an Onkel Rüben, der starb, als er acht
Jahre alt war, wie Du, weil er auf einem
Steingeländer gesessen hatte. Da darfst
Du niemals sitzen, Axel.“
Ein neidischer alter Hansnarr, dieser
Onkel Rüben! Er wollte blos nicht haben,
dass Axel Drachen tödtete und Prinzes-
sinnen befreite. Er sollte sich nur in
Acht nehmen, denn Axel konnte wohl
zeigen, dass er aitch Ruhm zu gewin-
nen vermöchte. Wenn er hier auf den
Steinboden hinabsprang und sich todt-
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