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1897

JUGEND

Nr. 26

Noeturno

Lvowic.

Raders

und dem^Offlziersrang. Danach bliebe ihr
nur noch eines zu wünschen, nämlich, die
grosse Trommel schlagen und dem Zuge
voran marschiren zu dürfen! Sie war als
Wäscherin beschäftigt, und ihre Tüchtig-
keit wurde sehr gelobt, wie sie sagte. Als
die Hausfrau auf den Hauptpunkt, nämlich
die Abstinenz, zu reden kam, erzählte sie
mit Seufzen und Beschämung, dass sie
in der ersten Zeit einige arge Rückfälle
gehabt habe, jetzt freilich glaube sie Alles
überwunden zu haben, und wenn es auch
schwer sei, jetzt sähe sie’s wohl ein, dass
sie so nicht zu brauchen gewesen und un-
aufhaltsam dem Abgrund zugetaumeltwäre.
Sie sagte „unaufhaltsam“ und drückte sich
überhaupt gebildet und mit Anklängen an
das Bibeldeutsch aus. Mitten in ihrem
Bericht verlor sie den Faden, denn es
wurden einige Salathäupter zum Nacht-
essen in die Küche gebracht. „O du mein,
sind die aber in Saat g’schosse,“ rief sie
wehmüthig, „mer sieht’s halt, dass ’s Luisle
nimmer da ist!“ Dagegen brach sie in
Bewunderung aus über den reichen Obst-
segen, der gelb und roth an Birn- und
Pfirsichbäumen hing, und nun gar die
Menge und Grösse der Trauben an den
Spalieren und im Rebberg machte, dass
sie vergnüglich mit der Zunge schnalzte.
„Das gibt en Herbst!“ wiederholte sie
einmal über’s andere. „Kommen Sie auch
zur Wimmet (Weinlese),“ sagte die Frau
beim Abschiede, während ihr Luisle einen
der Bekehrungszettel gewohnheitsmässig
in die Hand steckte und ihre Absicht
aussprach, jedem der ihr bekannten „wein-
grünen“ Herren ein halbes Dutzend min-
destens in’s Haus zu tragen. „Zur Wim-
met?“ über Luisles Gesicht zog die Er-
innerung seliger Zeiten. „I will schaue,“
sagte sie schmunzelnd, und dann noch ein-
mal rechts und links blickend: „Lug’ (sieh)
au do! und do! ja mer ka’fast net anders.“
Noch ein paar Mal Hess sie sich sehen,
und dann kamen wirklich nach einem be-
ständig warmen heiteren Nachsommer die
Freudentage der Weinlese. Und richtig,

gegen Ende derselben stellte sich die
Heilskandidatin, einigermassen incognito,
ein, Hess sich eine Traubenscheere und
eine Gelte geben und stellte sich tapfer
in Reih und Glied. Die Weinstöcke stan-
den noch im frischen Grün, die Sonne
hob nur hie und da ein purpurrothes
Säumchen an einem Blatt hervor; der
weiche Boden dampfte Fruchtbarkeit, heiss
war’s, blau schimmerte der schöne Zürich-
see zwischen den fruchtschweren Ge-
tänden, der Alpenkranz mit den Schnee-
häuptern an seinem Südrande lag blendend
hell im Oktobersonnenschein. ,.Juh huhu
hu!“ schrie es überall in den Weinbergen,
süsse Beeren labten die durstigen Lippen,
denn Jeder durfte nach Herzenswunsch
Trauben essen, wenn er „wimmen“ half.
Jauchzer begleiteten die hochgefüllten
Tausen in die Scheuer zur Traubenmühle,
wo die zerdrückten Beeren noch einmal
den zarten würzigen Duft der Rebenblüthe
aushauchten, bis sie im grossen Weinzuber
alle Einzelexistenz verloren.

Unermüdlich beim Schneiden, uner-
müdlich in ihrer Mahnung zum Beeren-
auflesen mit dem stetig wiederholten
Sprüchlein: „Die Beere gebe den Wein, die
Kämme (Stengel) gehe d’rein“, unermüd-
lich im Aufhalsen der schweren Tausen,
— eine Arbeit, die sonst nur Männer ver-
richteten, — zeigte sich Luisle. Ist es ihr
gross zu verdenken, dass sie aller guten
Vorsätze zum Trotz, durch den 1893er
Sauser (Most) noch einmal einen argen
Rückfall erlebte? Noch dazu, wo der ehe-
malige Hausherr nach der Lese Frei trunk gab,
„Krähhahnen hielt“, wie sie hier sagen? Die
ungewöhnliche Süsse und Güte des neuen
Saftes brachte mehr Füsse in’s Wanken, als
die der lustigen alten Heilskandidatin.

Schon aber ist sie so weit auf dem Pfade
der Tugend vorwärts geschritten, dass der
Rückfall sie aufrichtig schmerzt, und wenn
sie an die Möglichkeit denkt, die rothe
Jacke werde ihr doch noch entgehen, dann
wird sie tieftraurig. Aber die Heilsarmee
ist ja barmherzig! Hoffen wir das Beste!

Seelenbündniss

Ich öffne zögernd ihren Brief.

Der kleine Brief, was thut er kund?
Vielleicht nimmt es Mathilde schief,

Dass ich sie lieb’ aus Herzensgrund?
Vielleicht hat sie mein Fleh’n erhört?
Vielleicht ist all’ mein Glück zerstört?
Ich seufzte tief,

Bevor mein Blick das Blatt durchlief...
Sie schreibt: „Wir wollen Freunde sein
Wie Goethe und die Frau von Stein!“

Da ruf ich jubelnd: Frisch voran!

Dem Glück will ich entgegenzieh’n.

Im Flug trägt mich die Pferdebahn
Zu meiner Göttin Tempel hin.

„Komm an mein Herz, du süsses Glück!“
Ruf ich ihr zu. Sie weicht zurück
Und staunt mich an:

„Wie könnt Ihr mir so stürmisch nah’n?
Wir wollen doch nur Freunde sein
Wie Goethe und die Frau von Stein!“

Und nun erzählt sie mir genau,

Was sie gelernt im Pensionat
Vom Seelenbündniss jener Frau
Mit Goethe, dem Geheimen Rath —

Wie tadellos und einwandfrei
Der zarte Bund gewesen sei.

„Mathilde, schau —

Was Du da sagst, ist mir zu blau.

So wird es nicht gewesen sein,

Denn Goethe, der war nicht von Stein!“

Da widersprach sie hochgemuth.

So ging die Rede hin und her.

An Worten gab es eine Flutb,

Ein weites, sturmbewegtes Meer.

Es schwoll die Fluth, es wuchs der Zank,
Bis blutig flammend die Sonne sank....
Und kurz und gut:

Dann küssten wir uns in wilder Gluth

In dunkler Kammer ganz allein

Wie Goethe und die Frau von Stein. /. ir.

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J. W.: Seelenbündniss
Ludwig Raders: Nocturno
 
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