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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 51 (17. Dezember 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3338#0439
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1898

JUGEND

Nr. 51

t

Der neue GM")

f\ctd) den großen politischen und wirthschaft-
V lichen Umwälzungen, welche 1871 ihren
Abschluß fanden, war auch für uns Deutsche
die Kunstpflcge zum erhöhten Bedürfniß ge-
worden; und da uns im Laufe der Zeit das
Zeug zu selbständiger Kunstübung abhanden
gekommen war, so war es ein ebenso dem
nationalen Empfinden wie der künstlerischen
Einsicht entsprechender Gedanke, die „Werke
unserer Bäter" aus der glänzendsten Periode
deutschen Kunsthandwerks, dem sechzehnten Jahr-
hundert und dem Anfang des siebenzehnten,
wieder aufleben zu lassen.

Sehr glücklich kam dieser Richtung der Um-
stand zu Hülfe, daß wir zahlreiche, in den Museen
wie im Privatbesttz wohlerhaltene Kunstwerke
aller Art ganz direkt als Vorbilder verwen-
den konnten. Dadurch ward es möglich, nicht
nur zweifellos korrekte Vorstellungen, sondern
auch verloren gegangene Techniken wieder zu
gewinnen; insofern konnte man wirklich von
einem „Anschluß" au die Alten reden. Andrer-
seits bot sich auf diesem Wege auch der Anlaß
zu weiteren historischen Anlehnungen in auf-
und absteigender Linie, und so haben wir denn
im letzten Vierteljahrhnndert so ziemlich alle Stil-
entwickelungen vom Mittelalter bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts in mehr oder weniger ge-
schmackvollen Zusammenstellungen und Nach-
bildungen praktisch kennen, lieben und — be-
wohnen gelernt.

Schon die mehr und mehr hervortretende
Begünstigung, welche im Verlaufe dieser retro-
spektiven Entwicklung nicht blos in der Malerei,
sondern auch in der Dekorationskunst die späteren
Bildungen, namentlich vom Ansgange des 18.
Jahrhunderts fanden, konnte als ein Zeichen auf-
gefaßt werden, daß auch bei uns ein Fortschreiten
in moderner Richtung unausbleiblich war. Auch
bei uns drängte schon zu Ende der 80er Jahre
der Pleinairismus in der Malerei und die wieder-
erwachte Schwarzweißkunst — sagen wir über-
haupt der Secessionismus — zu freierer, mo-
dernerer Behandlung der Wände. Wenn wir
hierin verhältnißmäßig langsamer vorwärts ge-
kommen sind, als Engländer und Amerikaner,
so liegt das wohl zum großen Theile an dem
konservativen Sinn unseres Kunsthandwerks,

*) Nachwort zur viertenAuflagevonHirth's
„Deutschem Zimmer". München 1898.

welches erklärlicherweise an den eben erst müh-
sam eroberten Techniken und Ansdruckswcisen
der Renaissance festzuhalten bestrebt war, ein
Streben, welchem hie und da — theils aus Mit-
leid und Bequemlichkeit, theils aus tieferliegen-
dem Mißverständniß — von einflußreichen Ver-
einsvorständen und sonstigen offiziellen Kunst-
wächtern Vorschub geleistet wurde.

Das Mißverständniß lag und liegt noch
immer in der Meinung, daß die Beibehaltung
eines gewissen, einmal als allein seligmachend
und „schön" erkannten Stiles eine Frage des
männlichen Charakters, ja sogar der nationalen
Würde sei. Nichts ist verkehrter als solche
Meinung. Was ich in dieser Beziehung etwa
selbst früher gefabelt haben sollte, nehme ich
hiermit feierlich zurück. Die praktischen Erfahr-
ungen und die künstlerischen Gedanken eines
Menschenalters haben mich vielmehr in der schon
früher von mir vertheidigten Ansicht bestärkt:
Einen einzigen „schönen Stil" gicbt es nichr;
es gicbt nur Kunstwerke und Offenbarungen
künstlerischer Harnconie, und diese beiden hat
es wohl zu a l I e u Zeiten und bei allen Kultur-
völkern gegeben. Ueberall, wo w irkli che Kunst-
werke in harmonischer Weise Zusammen-
wirken, haben wir auch einen dekorativen Stil;
und so gewiß cs möglich ist, allgemeines Ver-
ständnis; für die in jedem Kunstwerk schlum-
mernde göttliche Begabung zu erringen, so ge-
wiß ist es falsch, aus irgend welchen, nicht in
der Kunst selbst gegebenen Gründen Etwas zu
verwerfen, was vor dem ächten und reinen
Kunsturtheil bestehen kann. Ein Kunstwerk als
solches verstehen, heißt auch es lieben oder doch
achten. Die Mißachtung eines Kunstwerkes
heißt daher nichts Anderes, als cs nicht ver-
stehen oder verstehen wollen. Das aber ist ge-
rade auf diesem Gebiete reinster Menschlichkeit
ein Zeichen verwerflicher Barbarei. Diese wird
nur noch schlimmer, wenn sich die blinde Miß-
achtung auf ganze Völker und Kunstperioden
erstreckt. Auf dem Gebiete der Kunst ist der
Rassenhaß nicht ein Merkmal der Kraft, son-
dern der geistigen Schwäche.

Nun haben wir freilich das Bedürfniß des
Fortschreitens, die Veränderungslust, die Mode.
Die von den ästhetischen Ideologen tausendmal
aufgeworfene und jüngst von Leo Tolstoi
so köstlich abgeschlachtete Frage „Was ist
Kunst?" — sie findet (wenn sie überhaupt
gestellt wird, was ich für sehr überflüssig halte)
nicht nur von jedem Individuum, sondern auch

8)9

von demselben Jndividuunr zu verschiedenen
Zeiten, die verschiedenste Bcaniwortung. Unser
persönliches Kunsturtheil ist in steter Um- und
Fortbildung (manchmal auch in Rückbildung)
begriffen. Dazu kommen die uns beherrschen-
den Triebe der Sinne und ihrer Gedächtnisse,
die Erziehung, das Milieu. Der Eine liebt
mehr die Anmuth und Schönheit, der Andere
mehr die Kraft und die herbe Wahrheit, der
Dritte die stimbolistische Andeutung, welche der
gestaltungsfreudigen und empfindsamen Phan-
tasie des Beschauers es ermöglicht, das Un-
mögliche als Wirklichkeit zu wähnen. Ja nicht
einmal an solchen Käuzen fehlt es, welche sonst-
igen Qualitäten zu Liebe die genicine Deut-
lichkeit der in die Sinne fallenden Schönheit
wie eine Klippe betrachten, die sorgfältig zu
umschiffen die vornehmste Aufgabe des Künst-
lers sei.

Es niag auch Menschen geben, welche, trotz
großer Begabung für allgemeinstes Kunstver-
ständniß, es dennoch vorziehen, sich dauernd
in einseitiger Weise mit diesem oder jenen;
Knnstzweige, mit den Werken dieses oder jenes
Künstlers zu beschäftigen; das sind dann viel-
mehr Fragen der Oekonomie, des persönlichen
Geschmackes, des wissenschaftlichen Zweckes.
Gesellt sich zum Verständniß gar die Leiden-
schaft des antiquarischen Sammelns, so ist die
Beschränkung ganz unerläßlich. Aber offene
Augen kann man dennoch für alles künst-
lerische Wirken haben, wenn man für jedes
Werk von Menschenhand den Aufwand von
Talent und Können zu ermessen vermag,
welche zu seiner Entstehung erforderlich waren,
— womit gar nicht geleugnet werden soll, daß
die Fragen der Originalität und der kunst-
nnd kulturgeschichtlichen Beziehungen noch ganz
besondere Kenntnisse und Studien voraussetzen.
Denn auch abgesehen von den Fällen, wo es
sich nur um nackte Kopien handelt, steckt ja
fast in jedem Kunstwerke nicht blos der Geist
seines Schöpfers, sondern auch eine gewisse
Menge künstlerischer Ueberlieferung, Schule
oder Nachempfindung.

Was nun die gegenwärtig im Flusse be-
findlichen Stilbildungen anbetrifft, so kann ich
in ihren Elementen nicht viel Originelles
finden. Hier sehen wir Anklänge an die Or-
namentik und Polychromie der Aegypter und
frühen Griechen mit tektonischen Rezepten der
Gothik und des Biedermännerstils, Altnord-
isches, Arabisches, Indisches und Japanisches
Index
Julius Diez: Zeichnung ohne Titel
Georg Hirth: Der neue Stil
 
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