Nr. 1
JUGEND
1900
Da drehte ich mich stolz und stumm
Nach dem predigenden Nachtwächter um;
Aber er war zur selbigen Stunden
Spurlos verschwunden.
Statt des Horns klang ein Locomotivenpfiff.
Der den Glocken die vollen Lacken kniff,
Ich sah den fenstererleuchteten Streifen
Fern durch das neblige Dunkel schleifen. —
So lauf, du neues Jahrhundert, lauf,
Rein Nachtwächter hält deine Räder auf,
Einen Ruß! wir wollen uns nicht lange
besinnen,
Genau wie die zwei im Gebüsch da drinnen! —
So stieg ich hochathmend bei Glockenton
Hinauf auf die alte feste Lastion:
Da lag mein Schildburg in mondloser Nacht
Von hunderttausend Sternen überdacht.
Gustav Kühl
-Mö ein Lieget vom Dache ftef
von Karl Seeberger
die Gassen wirbeln dichte flocken, und
der Baurath, ein versteinerter Junggeselle,
wirbelt mit ihnen dahin. Glücklich erreicht er
sein pausthor, emsig sucht er das Schlüsselloch,
da kollert eine Tracht Ziegel vom Dache auf
sein.pauxt herunter, und der steife put klafft
und spaltet sich bis auf den Schädel und noch
tiefer. Und rechts und links schält sich, wie bei der
Zwiebel, ein Stück um das andere von seinem
alten Menschen ab und platzt und verduftet. Er
aber wird federleicht, wird neu geboren, und
schwimmt und schwebt und fliegt, von Engeln
getragen, in seine warme Stube hinein.
Da sitzt er nun, in der Neujahrsnacht, aus-
geschält bis zu Schlafrock und Pantoffel, vor
-dem Spiegel, etwas wirr noch und betäubt,
und ahnt nicht, daß alles nur das Werk des
Ziegels gewesen, der vom Dache fiel, von selbst
hätte der alte Egoist nichts gethan, obwohl
in heutiger Nacht, wie bekannt, jedermann
seinen alten Menschen auszieheu und wenigstens
versprechen soll, besser zu werden. Und wie erst,
wenn ein neues Jahrhundert anrückt!
welch' freundliches Bild lacht ihm
aus dem Spiegel entgegen! So edel und gut
sieht er im innersten Kern aus. Und so will
er bleiben. Gott zu liebe und nicht um der
Menschheit willen, wie hat sie ihm mitgespielt,
ihn betrogen und zertreten! Unbekannt und
freudlos und ewig ungeliebt! Schauerlich! nur
die Mutter, sonst liebte ihn niemand. „Doch
nein!" so murmelt er leise vor sich hin und
spitzt die Lippen, „die waghalsige Fanny, bei
Gott! sie hat mich wahrhaftig geliebt, sie die
hochedle, die einzig Eine!"
Und er starrt auf die Tischecke hin, wo sie
saß, als sie Abschied nahm. Sei:: Auge wurde
feucht. Ihr Kind ließ sie damals zurück und
wanderte über das große Wasser aus nach
Brasilien oder Uruguay zu irgend einem Rast-
aquero, um dessen wilde Bangen zu zähmen.
Er wußte es, sie liebe ihn unsäglich, aber sie
war zu jung für ihn und zu arm. So ließ er
sie ziehen, die schönste der Wittwen, da^ herr-
liche Weib.
Als sie nach Jahresfrist wiederkam, um ihre
Tilda zu holen, da war sie schon vermählt,
war Frau Eonsul geworden. Und doch! wie
stürmisch hat sie ihn an ihren Busen gepreßt,
wie hat sie im letzten Kuß seine ganze Seele
in sich gezogen mit all' der Inbrunst weib-
licher Verzückung. Sein altes Mütterchen stand
dabei und weinte mit ihm; es schluchzte noch
krampfhafter als er.
„M käme sie noch heute zurück!" so seufzte
er tiefschmerzlich auf.
Unten rollten die Fiaker und Omnibus
vorbei. Der Prager Zug war angekommen,
der Eilzug direkt von pamburg. Eine glühende
Ahnung durchzuckt ihn. Und wirklich! die Paus-
glocke wird gezogen, leise schlürft es die Treppe
herauf, es klopft, und ein lieblicher Engel
tritt ein.
„Ah, willkommen! Du neues Jahrhundert!"
ruft er aus und springt auf. — „Bin kein
Jahrhundert," erwiderte der Engel, „btit ja die
Tilda, perr Vormund!" —■ „Tilda, mein
Engelskind! Und die Mutter?" — „Sie wartet
draußen."
Das war ein Umarmen, ein Küssen, ein
Pressen, ein Rauschen. Sie war es, seine Fanny,
die schlanke, wunderliebe Frau, die an seiner
Brust lehnt und lacht und weint. Und die
kleine Tilda klettert an der Mama und dein
voriuund hinauf und zerknittert bald das
Trauerkleid und bald den Salonrock, in den er
sich eilends geworfen. was die beiden Liebenden
einander erzählten, was sie flüsterten und sagten
und sangen, das kann nur der Glückliche ver-
stehen und glauben, der just selber liebt. Es
war der lieblichste Unsinn, des Pimmels töne-
reichste Melodie, der Erde duftigstes Brautlied.
Mittlerweile summte und kicherte es hinter
der Thllre, und rosige Nägelchen kratzten uitb
schabten daran. Er schaute sie fragend an.
„Die Kinder sind'sch erwiderte sie holdselig
erröthend und ihr Gesicht in seiner pemdkrause
bergend.
Ein Zwillingspaar trat ein. In der feier^
lichen Stimmung des neuen Menschen, den er
angezogen, drückte er die hübschen Kinder an
sein väterliches perz. „Seid umschlungen, Zwil-
linge!" fügte er hochsinnig hinzu, pinter der
Thüre aber kratzte und schabte es fort.
A. Schmidhammer
„5ind noch etwelche draußen?" fragte er
nicht ohneUnruhe. — „Noch ein zweites Paar."
— „Ja, ist das so landesüblich dort?" — „Bitt'
Dich, peinrich, der Amazonenstrom . . ."
Und sie guckte ihn so treuherzig schelmisch
an, als wüßte sie im voraus, wie weit die
männliche Dummheit reicht.
Auch das zweite Paar hob er vom Boden
auf, edel und gut, wie er schon war; aber
plötzlich schleuderte er die beiden Kleinen weit
von sich; es waren Mulattenkinder, zwei dick-
lippige Fratzen.
„(D, himmlische Fanny! Das hätte ich Dir
doch nicht zugetraut."
„Und sind die andern," antwortete sie leise
zugespitzt, „vielleicht eher Dein Fleisch und Blut,
weil sie Bleichgesichter sind? Und endlich, lieber
peinrich, hast Du denn nicht auch so manchem
das Licht des Lebens verliehen?"
„Meines Wissens nie."
„Ei, und wer ist denn diese Türkensklavin
da mit Deiner langen Nase und Deinen blauen
Augen? Und j'ener Schlingel dort, in Kuttenberg,
der eben jüdische Fensterscheiben einschlägt?"
„Barmherzigkeit! ich, der unwissende Vater
eines böhmischen Anarchisten!"
„Und hörst Du nicht das Getrampel auf
der Stiege? Aus allen Ländern, wo Du Eisen-
bahnen bautest . . . perein mit Euch!"
„Die alten Sünden!" rief er händeringend
aus und verlor die Besinnung. —--
Als er erwachte, sah die matte wintersonne
zum Fenster herein, und die alte Mutter wech-
selte die Eompressen. „Das war eine böse Nacht,
peiurich!" meinte sie.
„Ist die Fanny schon fort, Mutter?" hauchte
er tonlos, „und die Mulatten und die Anar-
chisten auch?"
„Er fiebert noch iinnrer ein bischen," be-
gütigte der Doktor, „aber der perr Baurath
hat einen deutsch-österreichischen Schädel, auf
dem man polz spaltet, dem thut ein Dach-
ziegel nichts."
peinrich war zu schwach, um etwas zu er-
widern. Aber ein seliges Lächeln, das feine
Lippen umspielte, begrüßte das neue Jahr-
hundert mit ungeheuchelter Wonne.
Silvesternacht
(Mit Zeichnung von A. Schmidhammer)
Der akte (Wandrer ging auf dunKkem (Wege,
Da tönten durch den (Ue6ek dumpfe Stocken
So feierkich: er stand und tauscht' erschrocken
(Und mußte nicht, warum sein Herz sich rege.
Da hört er Stimmen aus dem (Ueöet schatten:
„Sin neu Jahrhundert ist der Mett öeschieden;
Ss bringt das Stück, es bringt den ewigen Frieden.
Der Heitand kommt. Scifyt uns zur Kirche waKen!
Laßt vor dem Heitand uns zur Srde neigen!
Sin Hahr des Heikes naht, (von akkem (Kosen,
(von aEem Leid wird uns der Morgen kosen."
Im (Uekek schwinden sie. Die Stocken schweigen.
Der (Mandrer kekt. Sr wE die Lippen regen
(Und findet nur ein Mörttein: „Kruder! Kruder!"
(Und thranentos, um ein Jahrhundert müder,
Seht er dahin aus seinen dunkten Megen .. .
Hugo Salus
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JUGEND
1900
Da drehte ich mich stolz und stumm
Nach dem predigenden Nachtwächter um;
Aber er war zur selbigen Stunden
Spurlos verschwunden.
Statt des Horns klang ein Locomotivenpfiff.
Der den Glocken die vollen Lacken kniff,
Ich sah den fenstererleuchteten Streifen
Fern durch das neblige Dunkel schleifen. —
So lauf, du neues Jahrhundert, lauf,
Rein Nachtwächter hält deine Räder auf,
Einen Ruß! wir wollen uns nicht lange
besinnen,
Genau wie die zwei im Gebüsch da drinnen! —
So stieg ich hochathmend bei Glockenton
Hinauf auf die alte feste Lastion:
Da lag mein Schildburg in mondloser Nacht
Von hunderttausend Sternen überdacht.
Gustav Kühl
-Mö ein Lieget vom Dache ftef
von Karl Seeberger
die Gassen wirbeln dichte flocken, und
der Baurath, ein versteinerter Junggeselle,
wirbelt mit ihnen dahin. Glücklich erreicht er
sein pausthor, emsig sucht er das Schlüsselloch,
da kollert eine Tracht Ziegel vom Dache auf
sein.pauxt herunter, und der steife put klafft
und spaltet sich bis auf den Schädel und noch
tiefer. Und rechts und links schält sich, wie bei der
Zwiebel, ein Stück um das andere von seinem
alten Menschen ab und platzt und verduftet. Er
aber wird federleicht, wird neu geboren, und
schwimmt und schwebt und fliegt, von Engeln
getragen, in seine warme Stube hinein.
Da sitzt er nun, in der Neujahrsnacht, aus-
geschält bis zu Schlafrock und Pantoffel, vor
-dem Spiegel, etwas wirr noch und betäubt,
und ahnt nicht, daß alles nur das Werk des
Ziegels gewesen, der vom Dache fiel, von selbst
hätte der alte Egoist nichts gethan, obwohl
in heutiger Nacht, wie bekannt, jedermann
seinen alten Menschen auszieheu und wenigstens
versprechen soll, besser zu werden. Und wie erst,
wenn ein neues Jahrhundert anrückt!
welch' freundliches Bild lacht ihm
aus dem Spiegel entgegen! So edel und gut
sieht er im innersten Kern aus. Und so will
er bleiben. Gott zu liebe und nicht um der
Menschheit willen, wie hat sie ihm mitgespielt,
ihn betrogen und zertreten! Unbekannt und
freudlos und ewig ungeliebt! Schauerlich! nur
die Mutter, sonst liebte ihn niemand. „Doch
nein!" so murmelt er leise vor sich hin und
spitzt die Lippen, „die waghalsige Fanny, bei
Gott! sie hat mich wahrhaftig geliebt, sie die
hochedle, die einzig Eine!"
Und er starrt auf die Tischecke hin, wo sie
saß, als sie Abschied nahm. Sei:: Auge wurde
feucht. Ihr Kind ließ sie damals zurück und
wanderte über das große Wasser aus nach
Brasilien oder Uruguay zu irgend einem Rast-
aquero, um dessen wilde Bangen zu zähmen.
Er wußte es, sie liebe ihn unsäglich, aber sie
war zu jung für ihn und zu arm. So ließ er
sie ziehen, die schönste der Wittwen, da^ herr-
liche Weib.
Als sie nach Jahresfrist wiederkam, um ihre
Tilda zu holen, da war sie schon vermählt,
war Frau Eonsul geworden. Und doch! wie
stürmisch hat sie ihn an ihren Busen gepreßt,
wie hat sie im letzten Kuß seine ganze Seele
in sich gezogen mit all' der Inbrunst weib-
licher Verzückung. Sein altes Mütterchen stand
dabei und weinte mit ihm; es schluchzte noch
krampfhafter als er.
„M käme sie noch heute zurück!" so seufzte
er tiefschmerzlich auf.
Unten rollten die Fiaker und Omnibus
vorbei. Der Prager Zug war angekommen,
der Eilzug direkt von pamburg. Eine glühende
Ahnung durchzuckt ihn. Und wirklich! die Paus-
glocke wird gezogen, leise schlürft es die Treppe
herauf, es klopft, und ein lieblicher Engel
tritt ein.
„Ah, willkommen! Du neues Jahrhundert!"
ruft er aus und springt auf. — „Bin kein
Jahrhundert," erwiderte der Engel, „btit ja die
Tilda, perr Vormund!" —■ „Tilda, mein
Engelskind! Und die Mutter?" — „Sie wartet
draußen."
Das war ein Umarmen, ein Küssen, ein
Pressen, ein Rauschen. Sie war es, seine Fanny,
die schlanke, wunderliebe Frau, die an seiner
Brust lehnt und lacht und weint. Und die
kleine Tilda klettert an der Mama und dein
voriuund hinauf und zerknittert bald das
Trauerkleid und bald den Salonrock, in den er
sich eilends geworfen. was die beiden Liebenden
einander erzählten, was sie flüsterten und sagten
und sangen, das kann nur der Glückliche ver-
stehen und glauben, der just selber liebt. Es
war der lieblichste Unsinn, des Pimmels töne-
reichste Melodie, der Erde duftigstes Brautlied.
Mittlerweile summte und kicherte es hinter
der Thllre, und rosige Nägelchen kratzten uitb
schabten daran. Er schaute sie fragend an.
„Die Kinder sind'sch erwiderte sie holdselig
erröthend und ihr Gesicht in seiner pemdkrause
bergend.
Ein Zwillingspaar trat ein. In der feier^
lichen Stimmung des neuen Menschen, den er
angezogen, drückte er die hübschen Kinder an
sein väterliches perz. „Seid umschlungen, Zwil-
linge!" fügte er hochsinnig hinzu, pinter der
Thüre aber kratzte und schabte es fort.
A. Schmidhammer
„5ind noch etwelche draußen?" fragte er
nicht ohneUnruhe. — „Noch ein zweites Paar."
— „Ja, ist das so landesüblich dort?" — „Bitt'
Dich, peinrich, der Amazonenstrom . . ."
Und sie guckte ihn so treuherzig schelmisch
an, als wüßte sie im voraus, wie weit die
männliche Dummheit reicht.
Auch das zweite Paar hob er vom Boden
auf, edel und gut, wie er schon war; aber
plötzlich schleuderte er die beiden Kleinen weit
von sich; es waren Mulattenkinder, zwei dick-
lippige Fratzen.
„(D, himmlische Fanny! Das hätte ich Dir
doch nicht zugetraut."
„Und sind die andern," antwortete sie leise
zugespitzt, „vielleicht eher Dein Fleisch und Blut,
weil sie Bleichgesichter sind? Und endlich, lieber
peinrich, hast Du denn nicht auch so manchem
das Licht des Lebens verliehen?"
„Meines Wissens nie."
„Ei, und wer ist denn diese Türkensklavin
da mit Deiner langen Nase und Deinen blauen
Augen? Und j'ener Schlingel dort, in Kuttenberg,
der eben jüdische Fensterscheiben einschlägt?"
„Barmherzigkeit! ich, der unwissende Vater
eines böhmischen Anarchisten!"
„Und hörst Du nicht das Getrampel auf
der Stiege? Aus allen Ländern, wo Du Eisen-
bahnen bautest . . . perein mit Euch!"
„Die alten Sünden!" rief er händeringend
aus und verlor die Besinnung. —--
Als er erwachte, sah die matte wintersonne
zum Fenster herein, und die alte Mutter wech-
selte die Eompressen. „Das war eine böse Nacht,
peiurich!" meinte sie.
„Ist die Fanny schon fort, Mutter?" hauchte
er tonlos, „und die Mulatten und die Anar-
chisten auch?"
„Er fiebert noch iinnrer ein bischen," be-
gütigte der Doktor, „aber der perr Baurath
hat einen deutsch-österreichischen Schädel, auf
dem man polz spaltet, dem thut ein Dach-
ziegel nichts."
peinrich war zu schwach, um etwas zu er-
widern. Aber ein seliges Lächeln, das feine
Lippen umspielte, begrüßte das neue Jahr-
hundert mit ungeheuchelter Wonne.
Silvesternacht
(Mit Zeichnung von A. Schmidhammer)
Der akte (Wandrer ging auf dunKkem (Wege,
Da tönten durch den (Ue6ek dumpfe Stocken
So feierkich: er stand und tauscht' erschrocken
(Und mußte nicht, warum sein Herz sich rege.
Da hört er Stimmen aus dem (Ueöet schatten:
„Sin neu Jahrhundert ist der Mett öeschieden;
Ss bringt das Stück, es bringt den ewigen Frieden.
Der Heitand kommt. Scifyt uns zur Kirche waKen!
Laßt vor dem Heitand uns zur Srde neigen!
Sin Hahr des Heikes naht, (von akkem (Kosen,
(von aEem Leid wird uns der Morgen kosen."
Im (Uekek schwinden sie. Die Stocken schweigen.
Der (Mandrer kekt. Sr wE die Lippen regen
(Und findet nur ein Mörttein: „Kruder! Kruder!"
(Und thranentos, um ein Jahrhundert müder,
Seht er dahin aus seinen dunkten Megen .. .
Hugo Salus
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