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1900

JUGEND

Nr.-3

Nymphomanie. In der Pension treffen sie eine
alte Bekannte, die Mehlspeiseköchin Pumfine,
die einmal bei Schnierbeks war und wegen
Faulheit aus dem Dienst gejagt wurde. Diese
hat sich inzwischen mit dem wilden Schnepfen-
jäger und Parterregymnastiker Arnulf Muffl-
heim vermählt. Pumfine ist wegen ihres Asthma,
Mufflheim wegen seiner Plattfüße in der Kalt-
wasserheilanstalt, wo auöerbem noch der Alko-
holiker Meyer, der Diabetiker Hjalmar Schmitt,
der Rheumatiker Petck Schulz und der leber-
kranke Professor Oswald versammelt sind. Es
kommt Alles, wie es kommen muß. Schmerbek
faßt eine tiefe Leidenschaft für Pumfine und
diese liebt ihn wieder mit dem ganzen Phleg-
ma ihrer Seele. Aber die Beiden werden
ihrer Liebe nicht froh. Eines von Beiden
verschläft immer die Stunde des Rendezvous.
So kommen sie nie zusammen. Isidora und
Mufflheim finden sich gleichfalls in Liebe zu
einander. Isidora, die sich aber ihres Schorn-
steinfegers erinnert, verlangt von Mufflheim
eine Probe seines Muthes und ein Stelldichein
auf dem Kirchendach. Er kommt, gleitet mit
seinen Plattfüßen aus und reißt Isidora mit
sich in die Tiefe.

Die tiefe Symbolik dieser einfachen Hand-
lung ist staunenswerth. Der Charkutier Schmer-
iek ist die echte Künstlernatur, er liebt seine
Kunst und schafft Werk um Werk. Aber in
jedem Werke, das er schafft, mordet er ein
Glück — versinnbildlicht durch ein Schwein,
das er erdolcht in dumpfem Schaffensdrang.
Das richtige, reine, höchste Kunstwerk sollte
gar keine Gestalt haben, sollte nur empfunden
sein. Aber er muß schaffen, „muß Schinken
und Würste bereiten für die gefräßige Bande,"
d. h. Kunstwerke schaffen für die unwürdige
Neugier der verfländnißlosen Masse. So ist
diese tiefangelegte Natur an das Reelle gebannt.
Da kommt ihm Pulli fine in denLBeg. Diese
Frau mit ihrem Asthma, die immer nach Luft,
nach Athem ringt, symbolisirt den Drang nach
künstlerischer Freiheit. Aber sieKommen nicht
zusammen. Schmerbeks traumhafter Sinn läßt
es nicht zu — die Tragödie eines Künstler-
lebens, erschütternd in ihrer Schlichtheit! Die
mannstolle Isidora mit ihren Liebschaften sym-
bolisirt den Kampf reiner Weibestugend mit
den Mächten der Finsterniß. Zuerst der Schorn-
steinfeger, ein Gledchniß düsterer Umnachtung
der Seele durch die Sinne. Dann der Schnepfen-
jäger mit seiner rohen Kraft. Seine Platt-
füße zertreten die garten Keime ihres Glückes.

Bestätigung und —
Stimme von Oben tzur Berolina): „Sei
nicht böse» mach kein Gesicht!"

Sie wähnt sich verstanden, sie wähnt, er folge
ihr auf die Höhen ihrer Sehnsucht, „allwo Licht
und Sonnenschein über die Maßen sei." Aber
mit den Plattfüßen seiner brutalen Gier gleitet
er aus und reißt sie in die Tiefe. Das Kirchen-
dach symbolisirt „den schmalen Pfad zürn Lichte."
Auch die andern Figuren des Stückes finb
natürlich symbolische Gestalten von räthselhaftei
Tiefe. So repräsentirt der Diabetiker die un-
gesunde Süßigkeit eines ziellosen Genußlebens
der Rheumatiker die krankhafte Empsindlichkeit
eines eitlen Menschen, der Leberleidende den
Neid u. s. w.

Was dies Stück für die stumpfe Menge
schwer verständlich macht, ist nicht die Sym-
bolik der Handlung. Die muß doch jedem
Kinde klar sein! Nein! Ibsen ist jetzt weiter-
gegangen. auch in der Symbolik seiner Sprache.
Er substituirt jedem Worte einen andern, höheren
Sinn. Wenn er blau sagt, meint er roth.
Sagt er Schwartenmagen, so meint er Kunst-
werk. Sagt er Stiefel, so meint er Idee.
Jedenfalls meint er nie, was er sagt. Und
das gibt dem Ganzen wunderbar geheimniß-
vollen Reiz. So läßt er im zweiten Akt Frau
Isidora sprechen:

„Ich sehne mich so nach den grünen Bäumen,
in denen die Vögel singen!" Aber der Dichter
meint „fürchten", wenn er „sehnen", „grau",
wenn er „grün", „Häuser", wenn er „Bäume",
„Menschen", wenn er „Vögel" und „sterben",
wenn er „singen" sagt. Und so lautet Isidoras
Rede in Wahrheit: „Ich fürchte mich vor den
grauen Häusern, wo die Menschen sterben!"
Und in gleiche mystische Pracht sind alle Worte
der Dichtung gehüllt. Auch der Titel des er-
schütternden Werkes ist rein symbolisch gemeint:
„Wir Lebendigen", das sind wir, die wir in
Wahrheit tobt sind in unserem Leben, und was
wir in dieser Todtheit verrückt nennen, das ist
eben jene letzte und höchste Weisheit, die das
Leben nur den Todten gewährt, oder richtiger,
die den wahrhaft Lebendigen nur in dem
Augenblick zu Theil wird, wo sie in ungeheuerer
Lebendigkeit den Schwerpunkt des Daseins nach
jener Stelle verrücken, wo der Todte am Leben,
der Lebendige am Tode den lebendigen Tod
des Lebens stirbt! —

Wer das nicht einsieht, der kann mir leid thun!

Echt, ganz Ibsen, ist der Schluß des Werkes,
den ich hier anfügen möchte.

(Isidora und Mufflheim fallen vom Kirchendach)

Isidora (im Fallen): Es geht abwärts mit
uns, Arnulf! (Fällt immer schneller.)

Arnulf (fällt ebenso schnell): Da kannst Du
Recht haben, Isidora!

Jsid ora (fällt schnell): Oder eigentlich doch

— wieder aufwärts!

Arnulf (fällt sehr schnell): Meinst Du? —
Ja. — Vielleicht auch aufwärts!

Isidora (in immer beschleunigterem Fall): Auf-
wärts zum Lichte mein' ich! — Bildlich mein'
ich es, Arnulf!

Arnulf (rasend schnell fallend): Da kannst Du
wirklich recht haben, Isidora — ja — aufwärts
zum Lichte!

Isidora (fällt blitzschnell): Denn das ist das
ganz Merkwürdige, das; man abwärts sinkt und
zugleich aufwärts steigt . . .

Arnulf (fällt mit ungeheurer Geschwindigkeit):
Du meinst sozusagen mit verrücktem Schwerpunkt

— wir Lebendigen?

Isidora (lf/a m über dem Boden): Ja Arnulf

— so werden wir Lebendigen verrückt! (Sie
kommen mit hörbarem Knall unten an, dicht neben
Pumfine, die im Lehnstuhl sitzt und strickt.)

Pumfine (schreit auf): Ach Herrjehl

(Der Vorhang fällt.) Kob

57

Unter dem Uleibnacbtsbaum
John Bull: „Der verdammte Krüger nimmt
mir alle Soldaten weg!“ (Petit Bleu)

Druckfehler

Cettinje (Privattelegramm der „Jugend"):
Auf den durch die Vermählung des Thron-
folgers im Lande entfesselten Rubel ist jetzt
eine peinliche Ernüchterung gefolgt. — Mon-
tenegro ist außer Stande, seine Schundscheine
einzulösen. Morgen folgt Näheres über die
Einzelheiten dieses Aufsehen erregenden Dalles.

In der Wiener „Arbeiterzeitung" lesen wir
folgende „Danksagung":

„Unserm großen Wunderthäter, dem heilig.
Antonius von Padua, sprechen wir hiemit für
seine Hilfe bei den Reifeprüfungen unfern herz-
lichen Dank aus... Die Zöglinge des
Klosters in Reptschin bei Olmütz." —
Daß diese Weiblein das Lehrerinnen-
examen bestanden haben, halten wir in der
That auch für ein Wunder.

In Duisburg hat ein Musikreferent
in seiner Kritik auf das heftigste getadelt, daß
man irrt dortigen Theater „den Troubadour
ohne Ouvertüre" aufgeführt habe. Der
Mann wird auch einmal ein brillanter Referent
über bildende Kunst und Litteratur werden.
Alles Nöthige hat er dazu!
Index
[nicht signierter Beitrag]: In Duisburg hat ein...
[nicht signierter Beitrag]: Aus "Petit Bleu": Unter dem Weihnachtsbaum
Monogrammist Frosch: Bestätigung und Friedhofportal
[nicht signierter Beitrag]: In der Wiener "Arbeiterzeitung" lesen wir...
[nicht signierter Beitrag]: Politisches
 
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