1900
JUGEND
Das Mädchen wurde dunkelroth. Mit erregter
Stimme sagte es heftig: „Von uns stirbt aber
keiner!"
„Det j'loobe man nich'," gab der Junge
phlegmatisch zurück, „unser Lehrer sagt, Alle
müssen sterben!"
„Das ist nicht wahr!"
„Doch!"
Die Kleine zitterte. „Ich will aber nicht
sterben — und Mama und Papa und die Groß-
eltern — und Niemand soll von uns sterben!"
„Und wenn nran denn bot is —" fuhr der
Junge unbeirrt in gemüthlichem Ton fort, „un
uff'n Kirchhof jefahren, denn kommt nran in'neu
tiefet Loch, un Erde drüber, un oben Blumen,
un da bleibt man denn drinne liejen bis Pfingsten,
bis man 'rteix Engel wird."
Nachdenklich trat das Kind wieder ans Fenster
und blickte mit großen fragenden Augen zum
Himmel. Dort oben wohnten die Engel, sagte
Mama, und wenn sie fromm wäre, käme sie
auch dorthin. —
„Da geht Dein Vater, komm mal sehen,
Franz," rief sie nach einer Pause.
„Ja, un Mutter ooch, un Maxe. Kränze
hab'n sie ooch — die jehn nu nach'm Kirchhof."
„Sag das nicht immer, Franz. Ich fürchte
mich, wenn Du Kirchhof sagst!"
„Det is aber jar nischt zu fürchten! Det is
da jauz hübsch. Un heut is Dotensonntag— da
is et erst recht hübsch!"
Die Kleine schüttelte den
Kopf.
„Wir kommen aber da
nicht hin — ganz wirklich
nicht, Franz, glaub es mir!"
Der Knabe lächelte über-
legen. Die Hände in den
Hosentaschen, stellte er sich
breitbeinig an den Ofen und
beharrte gleichmüthig bei sei-
ner Anschauung. Angstvoll
schaute das Mädchen auf den
Kameraden, dessen Selbst-
bewußtsein sich noch um Vie-
les hob, als er die Kleine in
strömende Thränen ausbre-
chen sah.
„Sei man stille, Lottchen,"
sagte er nach einer Weile gut-
müthig — „ick jloobe, nu
kommt Marie!"
„Ich will nicht mit Franz,
Du kannst allein gehen!"
schluchzte das Kind.
„Det därf ick doch nid)!
Komm doch man mit, sonst
krieg' ick nischt!"
„Ich will nicht, ich will
nicht!"
Als das Dienstmädchen
kam, mußte dieses sie mit
sanfter Gewalt fortführen.
Franz folgte in freudiger
Erregung.
Das Stimmengewirr der
heiteren Tischgesellschaft, die
im Speisezimmer um die
Festtafel saß, verstummte
einen Augenblick, als die
Kleine durch die Thür ge-
schoben wurde.
„Lottchen, Lottchen!" Ein
Dutzend Hände streckten sich
dem Kinde entgegen.
Unbeweglich, mit großen,
ernsten Augen blieb es an
der Thür stehen.
Die jugendliche Mutter
in rauschender Toilette, ein
Bild lachender Lebensfreude,
eilte auf die kleine Tochter zu.
„Was hat mein Herzblatt?"
Zwei Thränen rollten noch über des Kindes
zarte Wangen. „Franz soll mit rein."
„Der kann doch hier nicht mit in's Zimmer,
Liebling!"
„Doch!"
„Aber Lottchen!"
„Ich will auch nicht hier bleiben," schluchzte
das Kind.
So ließ man auch den kleinen Franz herein.
Des Jungen Backen glühten, die blauen
Augen hingen verlangend an der festlichen Tafel
und das hellblonde Strohdach seines. Kopfes
stand vor Erregung ein wenig zu Berge. Ver-
traulich nahm er der kleinen Freundin Hand,
und ihr mit dem geliehenen Taschentuch die
Thränen trocknend, sagte er gutmüthig:
„Hier is et doch schön, Lottchen, weine nu
man nich mehr, nu kriejen wer doch wat!"
Nachdem die Heiterkeit, welche über des Kna-
ben Art ausbrach, sich gelegt hatte, fragte die
Mutter:
„Was hat sie denn nur, Franz? Wart Ihr
denn nicht vergnügt?"
„Ja, — aber eijentlich nee — ick war ver-
stricht — un sie weente zuletzt immer zu!"
„Habt Ihr Euch denn gezankt? Hast Du
ihr was gethan?"
Franz lachte hell auf. „Ick ihr was jethan?
— Nee, so wat jiebt's nich. — Sie is man blos
so traurig wejen't Sterben un Bejraben, — un
denn will sie 't nich jlooben, un et is doch wahr,
der Lehrer hat's doch jesagt!" —
Erstaunt hörten Alle auf des Jungen Worte,
der unbeirrt fortfuhr: „Von uns sind se doch
Alle nach'm Kirchhof, von wejen den Dotensonn-
tag — un nu heult se immerzu!"
Es war ganz still geworden im Saal.
Nur die Uhr tickte vernehmlich und die sei-
denen Kleider der Damen raschelten.
Todtensonntag!
Ein Schatten war auf die fröhliche Sorg-
losigkeit gefallen.
Mit unsäglicher Zärtlichkeil mnschlang die
Mutter ihr Töchterchen.
„Ein gräßlicher Bengel," bemerkte einer der
Herren, „kann eineur faktisch alle Laune ver-
derben." —
Franz strahlte. Taschen und Hände voller
Kuchen, wurde er mit der sanften Ermahnung
entlassen, Lottchen nie wieder von solchen schreck-
lichen Dingen zu erzählen.
Als sich die Korridorthür hinter dem Portiers-
jungen schloß, hockte er sich ein Weilchen auf
die Treppe und breitete nochmals alle seine
Herrlichkeiten um sich aus.
Von jedem Stück biß er eine kleine Ecke ab,
packte dann wieder alles zusammen und über-
legte dabei, wieviel er „Maxen" davon abgeben
sollte. Als er darüber mit sich einigermaßen
im Reinen war, wander-
ten seine Gedanken noch
einmal zurück zur kleinen
Freundin.
„Is doch zu dumm!
Wat da woll bei is, wenn
eener bot is!" —
Noch einmal griff er
hinein in die volle Tüte,
verzehrte ein Stück Choco-
lade und sprang dann
pfeifend die Treppe hin-
unter. —
Der
durstige Katxr
ß>cit der Satxr, schweifend
durch das Land,
Kah des Tempeks
(Marmorwände bkinken,
Milk er nicht mehr aus
der hohken Hand
(Don des (Kergquekks kaktem
(Wasser trinken.
Keine Träume Lkinken gkatt
und hekk,
Keine Lippen dürsten nach
dem (Kecher,
(lind die kecken (Nxmphen
sagt vom Quell
Der verdrossne, unzufriedne
Decher:
Denn am <Ä6end vor dem
Tempek steht
Gkatt und hell mit schimmer-
8tanken trügen
Sine, die er stumm um
Labung fkeht —
(lind sie staunt bei seinen
durstigen ?ügen.
Hugo Salus
Der ciurstige Satyr
Julias Diez
9
JUGEND
Das Mädchen wurde dunkelroth. Mit erregter
Stimme sagte es heftig: „Von uns stirbt aber
keiner!"
„Det j'loobe man nich'," gab der Junge
phlegmatisch zurück, „unser Lehrer sagt, Alle
müssen sterben!"
„Das ist nicht wahr!"
„Doch!"
Die Kleine zitterte. „Ich will aber nicht
sterben — und Mama und Papa und die Groß-
eltern — und Niemand soll von uns sterben!"
„Und wenn nran denn bot is —" fuhr der
Junge unbeirrt in gemüthlichem Ton fort, „un
uff'n Kirchhof jefahren, denn kommt nran in'neu
tiefet Loch, un Erde drüber, un oben Blumen,
un da bleibt man denn drinne liejen bis Pfingsten,
bis man 'rteix Engel wird."
Nachdenklich trat das Kind wieder ans Fenster
und blickte mit großen fragenden Augen zum
Himmel. Dort oben wohnten die Engel, sagte
Mama, und wenn sie fromm wäre, käme sie
auch dorthin. —
„Da geht Dein Vater, komm mal sehen,
Franz," rief sie nach einer Pause.
„Ja, un Mutter ooch, un Maxe. Kränze
hab'n sie ooch — die jehn nu nach'm Kirchhof."
„Sag das nicht immer, Franz. Ich fürchte
mich, wenn Du Kirchhof sagst!"
„Det is aber jar nischt zu fürchten! Det is
da jauz hübsch. Un heut is Dotensonntag— da
is et erst recht hübsch!"
Die Kleine schüttelte den
Kopf.
„Wir kommen aber da
nicht hin — ganz wirklich
nicht, Franz, glaub es mir!"
Der Knabe lächelte über-
legen. Die Hände in den
Hosentaschen, stellte er sich
breitbeinig an den Ofen und
beharrte gleichmüthig bei sei-
ner Anschauung. Angstvoll
schaute das Mädchen auf den
Kameraden, dessen Selbst-
bewußtsein sich noch um Vie-
les hob, als er die Kleine in
strömende Thränen ausbre-
chen sah.
„Sei man stille, Lottchen,"
sagte er nach einer Weile gut-
müthig — „ick jloobe, nu
kommt Marie!"
„Ich will nicht mit Franz,
Du kannst allein gehen!"
schluchzte das Kind.
„Det därf ick doch nid)!
Komm doch man mit, sonst
krieg' ick nischt!"
„Ich will nicht, ich will
nicht!"
Als das Dienstmädchen
kam, mußte dieses sie mit
sanfter Gewalt fortführen.
Franz folgte in freudiger
Erregung.
Das Stimmengewirr der
heiteren Tischgesellschaft, die
im Speisezimmer um die
Festtafel saß, verstummte
einen Augenblick, als die
Kleine durch die Thür ge-
schoben wurde.
„Lottchen, Lottchen!" Ein
Dutzend Hände streckten sich
dem Kinde entgegen.
Unbeweglich, mit großen,
ernsten Augen blieb es an
der Thür stehen.
Die jugendliche Mutter
in rauschender Toilette, ein
Bild lachender Lebensfreude,
eilte auf die kleine Tochter zu.
„Was hat mein Herzblatt?"
Zwei Thränen rollten noch über des Kindes
zarte Wangen. „Franz soll mit rein."
„Der kann doch hier nicht mit in's Zimmer,
Liebling!"
„Doch!"
„Aber Lottchen!"
„Ich will auch nicht hier bleiben," schluchzte
das Kind.
So ließ man auch den kleinen Franz herein.
Des Jungen Backen glühten, die blauen
Augen hingen verlangend an der festlichen Tafel
und das hellblonde Strohdach seines. Kopfes
stand vor Erregung ein wenig zu Berge. Ver-
traulich nahm er der kleinen Freundin Hand,
und ihr mit dem geliehenen Taschentuch die
Thränen trocknend, sagte er gutmüthig:
„Hier is et doch schön, Lottchen, weine nu
man nich mehr, nu kriejen wer doch wat!"
Nachdem die Heiterkeit, welche über des Kna-
ben Art ausbrach, sich gelegt hatte, fragte die
Mutter:
„Was hat sie denn nur, Franz? Wart Ihr
denn nicht vergnügt?"
„Ja, — aber eijentlich nee — ick war ver-
stricht — un sie weente zuletzt immer zu!"
„Habt Ihr Euch denn gezankt? Hast Du
ihr was gethan?"
Franz lachte hell auf. „Ick ihr was jethan?
— Nee, so wat jiebt's nich. — Sie is man blos
so traurig wejen't Sterben un Bejraben, — un
denn will sie 't nich jlooben, un et is doch wahr,
der Lehrer hat's doch jesagt!" —
Erstaunt hörten Alle auf des Jungen Worte,
der unbeirrt fortfuhr: „Von uns sind se doch
Alle nach'm Kirchhof, von wejen den Dotensonn-
tag — un nu heult se immerzu!"
Es war ganz still geworden im Saal.
Nur die Uhr tickte vernehmlich und die sei-
denen Kleider der Damen raschelten.
Todtensonntag!
Ein Schatten war auf die fröhliche Sorg-
losigkeit gefallen.
Mit unsäglicher Zärtlichkeil mnschlang die
Mutter ihr Töchterchen.
„Ein gräßlicher Bengel," bemerkte einer der
Herren, „kann eineur faktisch alle Laune ver-
derben." —
Franz strahlte. Taschen und Hände voller
Kuchen, wurde er mit der sanften Ermahnung
entlassen, Lottchen nie wieder von solchen schreck-
lichen Dingen zu erzählen.
Als sich die Korridorthür hinter dem Portiers-
jungen schloß, hockte er sich ein Weilchen auf
die Treppe und breitete nochmals alle seine
Herrlichkeiten um sich aus.
Von jedem Stück biß er eine kleine Ecke ab,
packte dann wieder alles zusammen und über-
legte dabei, wieviel er „Maxen" davon abgeben
sollte. Als er darüber mit sich einigermaßen
im Reinen war, wander-
ten seine Gedanken noch
einmal zurück zur kleinen
Freundin.
„Is doch zu dumm!
Wat da woll bei is, wenn
eener bot is!" —
Noch einmal griff er
hinein in die volle Tüte,
verzehrte ein Stück Choco-
lade und sprang dann
pfeifend die Treppe hin-
unter. —
Der
durstige Katxr
ß>cit der Satxr, schweifend
durch das Land,
Kah des Tempeks
(Marmorwände bkinken,
Milk er nicht mehr aus
der hohken Hand
(Don des (Kergquekks kaktem
(Wasser trinken.
Keine Träume Lkinken gkatt
und hekk,
Keine Lippen dürsten nach
dem (Kecher,
(lind die kecken (Nxmphen
sagt vom Quell
Der verdrossne, unzufriedne
Decher:
Denn am <Ä6end vor dem
Tempek steht
Gkatt und hell mit schimmer-
8tanken trügen
Sine, die er stumm um
Labung fkeht —
(lind sie staunt bei seinen
durstigen ?ügen.
Hugo Salus
Der ciurstige Satyr
Julias Diez
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