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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 7.1902, Band 1 (Nr. 1-26)

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Nr. 2
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Nr. 2

JUGEND

1902

Ich nicftf einen Blick jum Hafen.

In schwere, blauschwarze Rauchwolken
gehüllt, ragte dort ein Masteuwald em-
por, und über das Wasser her kam das
unharmonische, dumpfe Geräusch der
Ankerketten, das Pfeifen der Lokomotiven
und die lebhaften Stimmen der Last-
träger ... Ich entdeckte dort nichts, was
unsere erloschene Hoffnung auf irgend
einen Verdienst hätte nenbeleben können,
erhob mich und sprach zu Jemeljan:

„Nun, also gehen wir in die Salzwerkel"

„Jawohl... Geh nnrl... Wirst
Du's aber auch zwingen?" fragte er ge-
dehnt, ohne mich anzublicken,

„Das werden wir dort sehen!" —

„Also — wir gehen?" wiederholte Jemel-
jan und — rührte kein Glied, —

„Versteht sich!" — „Aha! Warum nicht?, ..
Gar nicht übel!... Gehen wir 1.. . Und dies
verwünschte Odessa — das mag bleiben, wo es
ist! Der Satan mag's schlucken! , , . Eine Hafen-
stadt! . ,. Jawohl, Hafenstadt!.,

„Schon gut. Steh' nur auf und wollen wir
gehen I Schimpfen hilft nichts I"

„Ja — wohin gehen wir denn? Du meinst —
in die Salzwerke? ,, , So! ,., Hm ,, , können
ja hingehen,. , Aber — weißt Du, Bruder —
Gescheites kommt auch da nichts 'raus!"

„Ja, hast Du denn nicht selbst gesagt, wir
sollten hin?"

„Gesagt Hab' ich's, das ist schon so. Und was
ich einmal gesagt Hab', da§ Hab' ich nun mal ge-
sagt ,.. Aber — Gescheites kommt nichts 'raus,
das ist ebenso richtig," —

„Ja — warum denn?" —

„Warum? . . . Glaubst wohl, sie warten dort
auf einen? .Kommt nur her, bitte, bitte, Ihr
Herren Jemeljan und Maxim, thut uns die Gnade
au, brecht gefälligst Eure Knochen und nehmt unsre
Groschen in Empfang!' Ne, Bruder, das gibts
nicht! Die Sache steht so: Heut sind wir noch
sozusagen Herren über unsere Haut —"

„Schon genugI Gehen wir endlich!"

„Wart'! Wir müssen — siehst Du — zu dem
Herrn Direktor der Salzwerke hinspazieren und mit
dem allernnterthänigsten Respekt zu ihm sprechen:
.Gnädiger Herr, sehr geehrter Raubritter und Blnt-
sanger, wir sind — sehen Sie — hierher gekommen,
um Euer Gnaden Freßgier diese unsere Felle
anzubieten; werden Euer Gnaden vielleicht geruhen,
sie uns für 60 Kopeken den Tag vom Leibe zu
reißen?' llnd dann —"

„Steh doch einmal auf und machen wir uns
auf den Weg! Wir kommen noch vor Abend
zu Fischern und helfen ihnen ihre Nehe ans Land
ziehen; da kriegen wir,vielleicht ein Abendessen!"

„Abendessen? Schon recht; die Fischerfranen
sind ein gutes Volk, Gehen wir, gehen mir!.. .
Aber — Gescheites kommt nichts 'raus! Demi —
siehst Du — die ganze Woche gehts nicht!"

Er erhob sich, über und über naß, und reckte
und streckte sich. Hierauf fuhr er mit seinen Hän-
den in die Taschen seiner Hose, die er sich ans
zwei Mehlsäcken genäht hatte, stöberte eine Weile
drin herum und schaute dann mit Humor in die
leeren Hände, sie ganz nah vors Gesicht haltend:
„Nichts! , .. Schon den vierten Tag such' ich, und
immer — nichts! Schöne Wirthschaft, Bruder!"

Wir gingen am Strande und wechselten nur
ab und zu einige Worte mit einander. Die Füße
versanken in dem nassen Sande... Der sonst
stets heiter aufgelegte Jemeljan war sichtlich kopf-
hängerisch, Als ich dies wahrnahm, machte ich
einen Versuch, ihn zu zerstreuen.

„Hör' mal, Jemeljan, erzähl' mir doch was!,,.
Vielleicht noch was ans Deinem Leben!"

„Wollt' schon erzähle», Bruder. ., Aber —
weißt Du — das Maul ist einem ganz schwach ge-
worden; 's kommt daher, weil der Bauch leer ist.
Der Bauch, siehst Du, das ist die Hauptsache! Alle
möglichen Mißgeschöpfe kannst Du treffen, — nur

Julius Diez

keine ohne Bauch. . . Jawohl, Bruder!, . • Ist
aber der Bauch ruhig und zufrieden, so geht's
auch der Seele gut; Alles, was der Mensch thut, —
kommt vom Bauch! , . , Doch das weißt Du ja
selbst I"

Er schwieg eine Weile. „Was wär's doch
für eine Mordsfreud', Bruder, wenn das Meer
jetzt — schwupps! tausend Rubel ans Land werfen
wollte! Gleich macht' ich eine Schenke ans, setzt'
Dich zum Schenkwitth ein und — für mich selbst
stellt' ich grad unter dem Schanktisch das Bett
auf und leitet' aus dem Fasse eine Röhre grad
in den Mund, Kaum krieg' ich Lust, aus dem
Freudenspnnde zu trinken, so kommandier' ich:
.Maxim, dreh' den Hahn!' . . - Und — gluck,
gluck, gluck — grad in den Schlund hinein!
Schluck nur zu, Jemeljan!.,. Herrlich wär's,
hol' mich der Geier!... Jener Kerl aber, der
da ans fetter Schwarzerde sitzt — kommt der und
will eine Herzstürknng — dem würd' ich was!,.
,Jemeljan Pawlytsch, gieb ein Gläschen ans Borg!'

— ,Wie?,, Was?.. Auf Borg?. Nichts davon!'..
.Jemeljan Pawlytsch, sei barmherzig!' — .Schön,
ich will's sein: ein Fuder her! Dann kriegst ein
Achtelchen!'. Ha-ha-ha! Den wollt'ich bearbei-
ten, den Fettwanst!"

„Nun, nun, warum denn so hart? Weißt
Du denn nicht, daß er jetzt Hunger leidet, jener
Schwarzerdbaner?"

„Wie? Er leidet Hunger? Gut! Ganz richtig!,.
Und — ich Hunger' wohl nicht? ,. , So lang ich
leb', Hab' ich Hunger, Freund I Und das steht in
keinem Gesetzbuch geschrieben .. . Jawohl! Er-
hungert ., , Und warum? ,.. Mißernte? .. Ganz
recht! Aber zuerst — in seinem Schädel und dann
erst ans dem Felde. So ist's. Warum kommt
denn in all den anderen Kaiserreichen keine Miß-
ernte vor?... Darum, weil dort der Schädel
einem nicht nur zum Kratzen aufgesetzt ist. Dort
denken die Leut' — das macht's, Sie können
Dir dort, Bruder, den Regen auf morgen auf-
schieben, wenn sie ihn heut' nicht brauchen, und
die Sonne können sie Dir weiter rücken, wenn
sie's allzu gut meint,.. Und — was für Maß-
regeln haben wir? . . . Gar keine... Doch —
was ist das Alles? Dummes Zeug! . . - Wenn
aber in Wahrheit tausend Rubel und eine Schenke —
das war' was!"...

Er verstummte und langte wieder einmal nach
seinem Tabaksbeutel, zog ihn heraus, kehrte die
Innenseite nach außen und nahm ihn genau in
Augenschein, Dann spuckte er zornig ans und —
warf ihn ins Meer. Eine Welle ergriff das
schmutzige Säckchen und trug es eine Strecke weit
fort; nachdem sie sich jedoch die Gabe näher an-
geschaut, warf sie sie unwillig von neuem an den
Strand.

„Nimmst nicht? . . . Nimmst schon!" Und
Jemeljan hob den nassen Beutel auf, steckte einen
Stein hinein und schleuderte, mächtig ansholend,
ihn wieder ins Wasser, Ich lachte.

„Nn — was soll das Grinsen?.. Auch ein
Mensch!.. Liest alle möglichen Bücher, schleppt sie
mit sich herum, aber — seinen Mitbruder verstehn,

— das kann er nicht!,.. Bierängiges Ungeheuer!"

Das bezog sich auf mich, und da-
raus, daß Jemeljan mich „vieräugiges
Ungeheuer" nannte, schloß ich. daß seine
Gereiztheit gegen mich einen hohen Grad
erreicht hatte. Denn nur in den Augen-
blicke», wo ihn der grimmigste Haß und
Groll gegen alles Existierende erfüllte,
nahm er's sich heraus, sich über meine
Brille lustig zu machen; im Allgemeinen
aber gab mir dieser unfreiwillige Schmuck
Gewicht und Ansehen in seinen Augen,
und zwar dermaßen, daß er in den ersten
Tagen unserer Bekanntschaft mich nicht
anders als mit „Sie" anzureden ver-
mochte, und dazu in einem Tone, der
von dem größten Respekte zeugte. Und
dies — ungeachtet dessen, daß ich, Schul-
ter au Schulter mit ihm, auf irgend
einem rumänischen Dampfer Kohlen verlud und,
gleich ihm, ganz zerlumpt, zerkratzt und wie Satan
schwarz war.

Ich entschuldigte mich vor ihm und begann,
um ihn einigermaßen zu beruhigen, von den „an-
deren Kaiserreichen" zu erzählen: ich suchte ihm
zu beweisen, daß seine Kenntnisse, soweit sie die
Herrschaft über Wolken und Sonne betrafen, in's
Gebiet der Mythen gehörten,

„Ei, sieh mal an!..." „Ach soI..." „Nu!,,."
„So, so!" schaltete er von Zeit zu Zeit ein; ich
merkte aber bald, daß sein Interesse für die „an-
deren Kaiserreiche" und für das Lehen und Weben
daselbst — ganz wider seine Gewohnheit — nicht
groß war, und daß er mir so gut wie garnicht zn-
hörte, sondern hartnäckig vor sich in die Ferne blickte,

„Das Alles mag schon ganz richtig sein," fiel
er mir plötzlich, mit einer unbestimmbaren Hand-
bewegnng, in die Rede. „Aber nun will ich Dich
mal was fragen. Sag' mal — was thätst, kam'
uns jetzt ein Mensch mit Geld entgegen, und mit
viel Geld?" — unterstrich er und warf einen
flüchtigen Seitenblick unter meine Brillengläser,
„thätst Du ihn wohl — sozusagen Deinem eige-
nen Fell zu Liebe — abmurksen?"

Ich zuckte zusammen. „Nein, gewiß nicht!"
gab ich zur Antwort, „Keiner hat das Recht,
sein Wohl um den Preis eines anderen Menschen-
lebens zu erkaufen,"

„Hn-Hu! Jawohl!,,. So steht's nämlich
sehr schön in den Bücher» gesagt. Aber — blos
von wegen des Gewissens! Was aber die Wahr-
heit ist: Der nämliche Herr, der solche Worte zu-
erst erdacht, — nicht einen Augenblick — wenn
die Gelegenheit da gewesen wär' — hätt' er sich
besonnen, dem eigenen Leben zu Lieb', einem
seiner Mitmenschen das Lebenslicht auszublasen!.,
Rechte!.. Da sind sie — diese Rechte!" Vor
meiner Nase prangte eindringlich Jemeljan's sehnige
Faust, „llnd ein jeder Mensch kehrt sich auch nur
an dieses Recht, — blos Jeder »ach seiner Weise,.
Rechte, jawohl — Rechte!"

Jemeljan schaute ganz finster drei», indem er
die Augen tief unter die langen und ausge-
hlichenen Brauen barg. Ich schwieg, da ich es
ans Erfahrung wnßte, daß es eitle Mühe war,
ihm in solchen Augenblicken zu widersprechen.
Ein Holzstück gerieth unter seinen Fuß, Er hob's
auf und schleudert' es in's Meer. Daun sprach er
mit einem Seufzer: „Wenn man doch eins rau-
chen könnt'!" ...

Sein Wunsch sollte bald Befriedigung stnden.
Wir stießen auf zwei kleinrnssische Schafhirten
und erbettelten von ihnen Tabak, sowie Brot und
Speck, — wobei es um ein Haar zu einer Rauferei
gekommen wäre.

Wir ließen uns nun ans dem Boden, am Saum
der Steppe, nieder und machten uns daran, das
schmackhafte Brot mit Speck zu verzehren. Jemeljan
schmatzte laut, athmete schwer durch die Nase und
wich, ans irgend welchem Grunde, sorgfältig meinen
Blicken aus... Der Tag neigte sich seinem Ende
zu. Aus der Ferne, über das Wasser her, kam
das Dunkel geflogen... Und weit, weit am äußer-
sten Rande der Steppe, hatte sich ein purpurner

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Julius Diez: Zeichnung ohne Titel
 
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