Nr. 3
1902
. JUGEND .
Sommermiffcig
Der junge Waldfchrat (räumt fo gut
3n Tdiwüler Sommermittagsgluth —
3hm glühen Io leltlnm die Wangen —
6s träumt ihm, er hätte im Waldesgrund
Zu einer ieligen Schäferhund’
6in rofiges Dixiein gefangen —
Drei Elfen kichern im Weidenbaum,
Sie Dören den Schläfer aus tiefem Craum,
Die Beiden, zu holdem Erwachen —
Und hat er erkannt, wer den Späh
gewagt —
gleich gibt es im Wald eine luftige 3agd,
Dafj Becken und Eftfein erbrachen!
Flink haFcht er lieh Eine — die Blonde
vielleicht,
Die keck ihm den Balm um die Dafe
ftreicht! —
Die Zappelnde hält er zur Strafe —
flufkieirdiend enteilen die Andern —
und bald
[liegt wieder der fonnendurchzitterte Wald,
Wie vorher, ftummträumend im Schlafe.
Cinscr-Eonaer-Coo
J. R. Witzei (München)
Tm Dionysostbeater zu JTtben
Von flßax von Seydel f
Sie folgenden Zeilen entstammen einer Zeit,
die schon lange Hinter uns liegt, und beab-
sichtigen daher nicht, zu einer Frage, die die
Gegenwart beschäftigt, Stellung zu nehmen.
Ties beweist schon der Umstand, dast es sehr
lange her ist, seit es mir vergönnt war, nach
Athen zu reisen. Ich möchte aber die Zeilen
nicht verloren gehen lassen, da ich glaube, daß
sie manchem Leser Spaß machen werden. Man
gestatte daher, daß ich dieselben wiedergebe,
wenn auch zur Zeit Niemand lebt, der sich
dadurch getroffen fühlen mag. Nutzen bringen
mögen sie immerhin. —
Die Sonne hatte sich an? den Fluthen des
ägäischen Meeres erhoben und ein tiefer Gold-
glanz zog über die Tempel der Akropolis. Auf
der Ebene gegen den saronischen Golf zu brauten
Nebel, denen die Wipfel des Oelwaldes schwärz-
lich enttauchten, wie Klippen aus weißlich schäu-
menden Wogen. Fern aber glänzte in zarten
und Hellen Linien die Bucht des Peiraieus und
darüber hinaus breitete sich blau die See, dar-
aus Jnselberge ragten, Salamis und Aigina,
die erlauchten Namen, und hinter ihnen, breit
und gewaltig, dehnte sich die Küste von Argalis.
Auf den obersten Stufen des Dionysosthea-
ters, wo zwei Säulen zu der Akropolismauer
emporstreben, saß ein Fremdling, das Haupt
in die Hand gestützt, und ein Buch auf den
Knieen; Sophokles stand auf dem aufgeschlage-
nen Blatte. Einsam war das große, sich ab-
wärts verjüngende Rund des Theaters, öde
unten die Orchestra, leer die Marmorsitze der
Priester.
Da trafen Flötenklänge das Ohr des Träu-
menden und Gemurmel nahenden Volkes, und
bald strömte es herein in wimmelnden Massen,
und füllte die Treppen, Kopf an Kopf und
Knie an Knie, und wie sich das regte und
bewegte und die Gewänder im Morgenwinde
flatterten, da schien es ein breiter Strom, der in
tausend glitzernden Wellen von gestufter Fels-
wand in ein tiefgehöhltes Becken hinabschäumt.
Und plötzlich kam Schweigen über die
Menschen. Zwei hohe Frauengestalten traten
auf die Bühne: zornig empört die Eine, ruhig
und sittig die Andere. Tönend erhob die Erste
die Stimme und klagte ob des Unheils im
Hause des Oedipus, ob unbegrabener Tobten,
ob ungesühnter Schmach. Sanft und traurig
antwortete die Zweite; aber die Schwester
schalt und ihr Auge flammte und wie zum
Fluche zuckte sie die Hand. So stürzte sie weg
und weinend folgte ihr die Genossin.
1902
. JUGEND .
Sommermiffcig
Der junge Waldfchrat (räumt fo gut
3n Tdiwüler Sommermittagsgluth —
3hm glühen Io leltlnm die Wangen —
6s träumt ihm, er hätte im Waldesgrund
Zu einer ieligen Schäferhund’
6in rofiges Dixiein gefangen —
Drei Elfen kichern im Weidenbaum,
Sie Dören den Schläfer aus tiefem Craum,
Die Beiden, zu holdem Erwachen —
Und hat er erkannt, wer den Späh
gewagt —
gleich gibt es im Wald eine luftige 3agd,
Dafj Becken und Eftfein erbrachen!
Flink haFcht er lieh Eine — die Blonde
vielleicht,
Die keck ihm den Balm um die Dafe
ftreicht! —
Die Zappelnde hält er zur Strafe —
flufkieirdiend enteilen die Andern —
und bald
[liegt wieder der fonnendurchzitterte Wald,
Wie vorher, ftummträumend im Schlafe.
Cinscr-Eonaer-Coo
J. R. Witzei (München)
Tm Dionysostbeater zu JTtben
Von flßax von Seydel f
Sie folgenden Zeilen entstammen einer Zeit,
die schon lange Hinter uns liegt, und beab-
sichtigen daher nicht, zu einer Frage, die die
Gegenwart beschäftigt, Stellung zu nehmen.
Ties beweist schon der Umstand, dast es sehr
lange her ist, seit es mir vergönnt war, nach
Athen zu reisen. Ich möchte aber die Zeilen
nicht verloren gehen lassen, da ich glaube, daß
sie manchem Leser Spaß machen werden. Man
gestatte daher, daß ich dieselben wiedergebe,
wenn auch zur Zeit Niemand lebt, der sich
dadurch getroffen fühlen mag. Nutzen bringen
mögen sie immerhin. —
Die Sonne hatte sich an? den Fluthen des
ägäischen Meeres erhoben und ein tiefer Gold-
glanz zog über die Tempel der Akropolis. Auf
der Ebene gegen den saronischen Golf zu brauten
Nebel, denen die Wipfel des Oelwaldes schwärz-
lich enttauchten, wie Klippen aus weißlich schäu-
menden Wogen. Fern aber glänzte in zarten
und Hellen Linien die Bucht des Peiraieus und
darüber hinaus breitete sich blau die See, dar-
aus Jnselberge ragten, Salamis und Aigina,
die erlauchten Namen, und hinter ihnen, breit
und gewaltig, dehnte sich die Küste von Argalis.
Auf den obersten Stufen des Dionysosthea-
ters, wo zwei Säulen zu der Akropolismauer
emporstreben, saß ein Fremdling, das Haupt
in die Hand gestützt, und ein Buch auf den
Knieen; Sophokles stand auf dem aufgeschlage-
nen Blatte. Einsam war das große, sich ab-
wärts verjüngende Rund des Theaters, öde
unten die Orchestra, leer die Marmorsitze der
Priester.
Da trafen Flötenklänge das Ohr des Träu-
menden und Gemurmel nahenden Volkes, und
bald strömte es herein in wimmelnden Massen,
und füllte die Treppen, Kopf an Kopf und
Knie an Knie, und wie sich das regte und
bewegte und die Gewänder im Morgenwinde
flatterten, da schien es ein breiter Strom, der in
tausend glitzernden Wellen von gestufter Fels-
wand in ein tiefgehöhltes Becken hinabschäumt.
Und plötzlich kam Schweigen über die
Menschen. Zwei hohe Frauengestalten traten
auf die Bühne: zornig empört die Eine, ruhig
und sittig die Andere. Tönend erhob die Erste
die Stimme und klagte ob des Unheils im
Hause des Oedipus, ob unbegrabener Tobten,
ob ungesühnter Schmach. Sanft und traurig
antwortete die Zweite; aber die Schwester
schalt und ihr Auge flammte und wie zum
Fluche zuckte sie die Hand. So stürzte sie weg
und weinend folgte ihr die Genossin.