Nr. 9
1902
- J
UGEND .
® * »
Julius Diez
„O ja!" Sie freut sich, als wenn sie ihn schon
in der Hand hätte. Und auf dem Boden liegend,
die Wangen in die Hände gedrückt, beginnt sie
eine aus Reminiszenz und eigener Dichtung ge-
mischte Litanei zu singen:
„Jetz kommt der schöne Frühling,
Dann scheint die liebe Sonne so schön,
Und dann singen die Vögelchenlein,
Und dann spiel'n mir wieder in Garten,
Und dann gibt Rudi mir wieder seine Schaufel,
Und dann graben wir wieder in Garten • -
Es ist ein Kinderlied nach unendlicher Melodie,
die aber jäh abgerissen wird durch die Sensations-
nachricht, daß der Tisch gedeckt sei.
„Aah — mein gnädiges Fräulein, darf ich die
Ehre haben?" Ich reiche ihr herablassend den
Arm, sie hakt ein und hüpft an ineiner Seite zu
Tisch wie der Hase in den Kohl.
Als die Suppe auf den Tisch kommt, ruft sie
mit leuchtenden Augen: „Ei, Kerbelsuppe, das is
mein Liebstes!" Es ist ein Glück, daß sie diese
Erklärung ungefähr bei jeder Speise abgibt. Selten
nur erklärt sie beim Anblick einer Speise, daß sie
„solche Leibschmerzen" habe. Wenn meine Frau
ihr dann die Speise fortnimmt und sagt: „Dann
kannst Du ja heute auch kein Obst essen," so ver-
sichert sie strahlenden Angesichts: „Jaaa, Mamma,
sür Obs Hab ich kein Leibweh!"
Daß man ihre kleinen Schwindeleien nicht durch-
schaue, diese naive Meinung, die uns an den Er-
wachsenen so sehr entzückt, findet man oft schon
bei den Kleinen.
Als gebratene Fische auf den Tisch kommen,
ruft sie: „Ei, gebrat'ne Schiffe! Mein Liebstes!"
Die beiden Wasserthiere „Fisch" und „Schiss"
kann sie durchaus nicht auseinanderhalten, und es
ist eines der anmuthigsten Schauspiele, zu sehen,
wie ihre Lippen und ihr Zünglein sich bei diesen
Worten in Zweifelsqualen wälzen.
Ich erläutere ihr nochmals mit logischer Di-
stinktion die beiden Dinge und denke dabei: „Wer
doch so ein aufhorchendes Kinderange beschreiben
könnte! Was müßte das für ein Dichter sein,
der den Blick eines Kindes singen könnte!" Nach
Beendigung meines Vortrages frage ich sie:
„Also was liegt ans Deinem Teller?"
„Ein Schfffff—schiff!!!"
„Und was sährt auf dem Wasser?
„Ein Schschf—fisch!!"
Das wollt ich nur hören.
Sie bittet inständigst, ihr die Fische nüt den
Gräten zu geben, wie sie auch Kirschen, Pflaumen
und dgl. mit den Steinen erbittet. Meine Frau
läßt denn auch ein paar riesengroße Gräten in
dem Fisch, die Appelschnnt nach beendeter Mahlzeit
mit großem Stolze vorzeigt. Ein Gefühl, das ich
durchaus verstehe. Wenn man drei Jahre alt ist,
will man schließlich nicht mehr bevormundet sein
wie ein kleines Kind. Bei welcher Gelegenheit
man mit der Selbständigkeit anfängt, ist einerlei,
aber anfangen muß man mit ihr, das liegt so
im Wesen der Selbständigkeit.
Mittlerweile hat die hohe Mittagssonne den
Schnee draußen an manchen Stellen weggeleckt,
und als ich zufällig hinansblicke, sitzt ans dem
Fenstersims ein verfrühter Schmetterling in bang-
erwartungsvoller Stille. Ich sage nichts, sondern
nehme nur Appelschnnt auf den Arm, trage sie ans
Fenster und zeige ihr schweigend das stille Wunder.
Im nächsten Augenblick wäre sie mir fast aus dem
Arm geschnellt wie ein springlebendiger Karpfen.
„Ein Schmeckerling, ein Schmeckerling! Mamma,
Mamma, ein Schmeckerling! Trude, Rasmus, Hertha,
ein Schmeckerling, ein Schmeckerling l"
Die ganze Familie versammelt sich am Fenster.
„Der is doch wirklich, nich? Das is doch ein
garkein ausspaßiger, nich Pappa?"
„Nein, das ist ein wirklicher, lebendiger Schmetter-
ling."
„Ja, ein gebendiger Schmeckerling! Irene,
ein gebendiger Schmeckerling!" Ich habe die größte
Mühe, sie zn halten; ihr ganzes Körperchen ist
Zittern und Jauchzen.
Das ist die erste Freude an den Dingen! Sie
hat im Bilde und in der Natur schon Schmetter-
linge gesehen; aber die sind verblichen und ver-
gangen wie tausend andere Eintagsfalter aus dem
Frühsommer der Kinderseele. Heut erst erfolgt die
formelle Vorstellung zwischen Schmetterling und
Appelschnnt- Das ist Freude! Das ist die Freude
an den Dingen, die noch nicht fragt, was sind
uns die Dinge und was sind wir den Dingen —
die in jeder Blume ein entdecktes Land sieht und
in jedem Steinchen ein persönliches Geschenk.
„Bitte bitte, süßer Pappa, laß den Schmecker-
ling mal reinkommen!" fleht die Kleine.
Vaterschaft verpflichtet. Ich mache mich also
mit großer Vorsicht daran, den „Frühling" ins
Zimmer zu schaffen, ohne daß ich seine Flügel be-
rühre, und cs gelingt. Jetzt sitzt er auf dem Tisch
unter dem Kreuzfeuer von sieben Augenpaaren.
„Hertha, Du muß nich so laut sprechen," flüstert
Appelschnnt, „das mag er nich hören."
Und jede leise Regung seiner Fühler und
Schwingen wird mit unterdrücktem Jubel begrüßt.
Dann aber geschieht etwas Großes, etwas unerhört
Großes. Der Falter hebt sich auf und setzt sich
auf Roswithas Arm.
Nun sitzt sie da, ein erstarrtes Freudebeben.
Sie rührt keine Muskel, nur ihre weit offenen
Augen gehen behutsam von einem zum andern.
Ihr Glück hat ans ihrem Gesichtchen nicht Platz
und strahlt weit darüber hinaus wie ein Glorien-
schein.
„Er mag mich leiden," spricht sie mit seligem
Stolz.,
Der Schmetterling hat — nach Art der Schmetter-
linge — die Dame seiner Wahl verlassen und ist
weil fortgeflogen, bis hoch oben auf das Gardinen-
brett. Er macht keine Miene, von dort zurück-
zukehren, und so erkalten allmählich auch Appcl-
schnuts Gefühle.
Da aus der Gewohnheit sich das Recht bildet,
so hat Appelschnnt das Recht erworben, mich nach
dem Essen schlafen zu legen. Sie bekommt bei
dieser Gelegenheit nicht selten ein Stück von der
Chokolade, die in einer Düte ans meinem Schreibtisch
liegt. Das Schlafenlegen geht so vor sich: ich
muß mich vor die Chaiselongue stellen; Appelschnnt
gibt mir einen Stoß, dann muß ich lang aufs
Ruhebett fallen und eine Minute lang schrecklich
mit den Beinen strampeln. Ich muß heut eine
besanders geniale Strampel- Intuition gehabt haben;
denn die ganze kleine Roswitha explodiert in ein
wahrhaft beseligendes Gelächter. Und wieder Hab
ich es ganz genau beobachtet, daß solch ein Kinder-
lachen unmittelbar ans dem Herzen hervorbricht.
Das Herz springt auf mit einem Knall wie eine
Knospe und schüttet siebentausend flügelschlagende
Engel aus.
Inzwischen befinden wir uns bereits bei Nr. 2
des Programms: Appelschnnt ist zu Pferde gestiegen.
Das Pferd bin ich. Die Aufgabe besteht nun
darin, die Litteratur der Reiterlieder zu durchhopsen,
z. B. „Hoppe Hoppe Reiter" und „Hopp hopp
Reiterlein" rc rc., eine väterliche Leistung, die nur
derjenige würdigen kann, der weiß, was Embon-
point heißt. Dabei gibt es Litteraturwerke, die
mindestens sechsmal wiederholt werden müssen, z. B.
Zuck zuck zuck noh Möhlen,
Roswitha sitt op't Fühlen,
Trudel op de bunte Koh
Un Rasmns op'n Swanz bitoo.
Rid wi all noh Möhlen.
„Goden Dag, Froo Möllerin,
Wo fett wi unsen Sack denn hin?"
„Buten op de Trepp,
Mang all de bunten Säck'.
Morgen geiht de Möhl;
Denn geiht se: Rumpumpel rumpumpel
rumpumpel rumpumpel."
(in inünituin.)
Plötzlich hält sie im Reiten inne, macht ein
tief nachdenkliches Gesicht und fragt: „Pappa, wie
heiß noch man das Lied von den Schwalben?"
Sie meint Chamissos Schwalbengedicht:
„Mutter, Mutter, unsre Schwalben,
Sieh doch, ljebe Mutter, sieh:
Junge haben sie bekommen,
Und die Alten füttern sie."
Sie gibt nicht eher Ruhe, bis ich ihr das ganze
Gedicht vorspreche. Und während ich spreche, muß
ich denken: Wer doch den Blick eines Kinderauges
beschreiben könnte, diese ruhig strahlende Blume,
die ahnungslos unter den überhangenden Felsen
des Schicksals blüht. Denselben Blick sah ich ein-
mal, als ich an einem trüben Ostertage durch die
traurigen Straßen einer Vorstadt schleuderte. Ein
kleiner Knabe ergriff mich beim Rock und sagte:
„Du, kuck mal, ich hab'n neue Mütze gekriegt!"
Er mußte sein Glück hinaussprechen, und er
vertraute es mir, dem völlig fremden Manne an.
Aus einem schmutzigen Gesichtchen lachten mich
zwei große Glaubenssterne an. Und der Ostertag
wurde licht und schön.
Wenn man nur ein einziges Mal so reden
oder schreiben könnte, daß die Worte mit solchen
Augen die Menschen ansähen... Dann könnte
man sich doch ruhig hinlegen und sterben.-
Als ich das Schwalbengedicht zn Ende gesprochen
habe, athmet sie tief auf und sagt:
„Das is zu hübsch! Das lern' ich mir, un
denn zieh ich einfach mein Mantel an un geh in
die Schule."
Kinder in diesem Alter haben bekanntlich ein
kaum zu zügelndes Verlangen nach der Schule —
sozusagen ein mathematischer Beweis für die Naivetät
dieser kleinen Wesen. Dabei hat sie offenbar die
Vorstellung, daß man in die Schule gehe, um da-
selbst zu Hause Gelerntes abzulagern. Sollte das
Kind eine Ahnung von unseren Gymnasien haben?
1902
- J
UGEND .
® * »
Julius Diez
„O ja!" Sie freut sich, als wenn sie ihn schon
in der Hand hätte. Und auf dem Boden liegend,
die Wangen in die Hände gedrückt, beginnt sie
eine aus Reminiszenz und eigener Dichtung ge-
mischte Litanei zu singen:
„Jetz kommt der schöne Frühling,
Dann scheint die liebe Sonne so schön,
Und dann singen die Vögelchenlein,
Und dann spiel'n mir wieder in Garten,
Und dann gibt Rudi mir wieder seine Schaufel,
Und dann graben wir wieder in Garten • -
Es ist ein Kinderlied nach unendlicher Melodie,
die aber jäh abgerissen wird durch die Sensations-
nachricht, daß der Tisch gedeckt sei.
„Aah — mein gnädiges Fräulein, darf ich die
Ehre haben?" Ich reiche ihr herablassend den
Arm, sie hakt ein und hüpft an ineiner Seite zu
Tisch wie der Hase in den Kohl.
Als die Suppe auf den Tisch kommt, ruft sie
mit leuchtenden Augen: „Ei, Kerbelsuppe, das is
mein Liebstes!" Es ist ein Glück, daß sie diese
Erklärung ungefähr bei jeder Speise abgibt. Selten
nur erklärt sie beim Anblick einer Speise, daß sie
„solche Leibschmerzen" habe. Wenn meine Frau
ihr dann die Speise fortnimmt und sagt: „Dann
kannst Du ja heute auch kein Obst essen," so ver-
sichert sie strahlenden Angesichts: „Jaaa, Mamma,
sür Obs Hab ich kein Leibweh!"
Daß man ihre kleinen Schwindeleien nicht durch-
schaue, diese naive Meinung, die uns an den Er-
wachsenen so sehr entzückt, findet man oft schon
bei den Kleinen.
Als gebratene Fische auf den Tisch kommen,
ruft sie: „Ei, gebrat'ne Schiffe! Mein Liebstes!"
Die beiden Wasserthiere „Fisch" und „Schiss"
kann sie durchaus nicht auseinanderhalten, und es
ist eines der anmuthigsten Schauspiele, zu sehen,
wie ihre Lippen und ihr Zünglein sich bei diesen
Worten in Zweifelsqualen wälzen.
Ich erläutere ihr nochmals mit logischer Di-
stinktion die beiden Dinge und denke dabei: „Wer
doch so ein aufhorchendes Kinderange beschreiben
könnte! Was müßte das für ein Dichter sein,
der den Blick eines Kindes singen könnte!" Nach
Beendigung meines Vortrages frage ich sie:
„Also was liegt ans Deinem Teller?"
„Ein Schfffff—schiff!!!"
„Und was sährt auf dem Wasser?
„Ein Schschf—fisch!!"
Das wollt ich nur hören.
Sie bittet inständigst, ihr die Fische nüt den
Gräten zu geben, wie sie auch Kirschen, Pflaumen
und dgl. mit den Steinen erbittet. Meine Frau
läßt denn auch ein paar riesengroße Gräten in
dem Fisch, die Appelschnnt nach beendeter Mahlzeit
mit großem Stolze vorzeigt. Ein Gefühl, das ich
durchaus verstehe. Wenn man drei Jahre alt ist,
will man schließlich nicht mehr bevormundet sein
wie ein kleines Kind. Bei welcher Gelegenheit
man mit der Selbständigkeit anfängt, ist einerlei,
aber anfangen muß man mit ihr, das liegt so
im Wesen der Selbständigkeit.
Mittlerweile hat die hohe Mittagssonne den
Schnee draußen an manchen Stellen weggeleckt,
und als ich zufällig hinansblicke, sitzt ans dem
Fenstersims ein verfrühter Schmetterling in bang-
erwartungsvoller Stille. Ich sage nichts, sondern
nehme nur Appelschnnt auf den Arm, trage sie ans
Fenster und zeige ihr schweigend das stille Wunder.
Im nächsten Augenblick wäre sie mir fast aus dem
Arm geschnellt wie ein springlebendiger Karpfen.
„Ein Schmeckerling, ein Schmeckerling! Mamma,
Mamma, ein Schmeckerling! Trude, Rasmus, Hertha,
ein Schmeckerling, ein Schmeckerling l"
Die ganze Familie versammelt sich am Fenster.
„Der is doch wirklich, nich? Das is doch ein
garkein ausspaßiger, nich Pappa?"
„Nein, das ist ein wirklicher, lebendiger Schmetter-
ling."
„Ja, ein gebendiger Schmeckerling! Irene,
ein gebendiger Schmeckerling!" Ich habe die größte
Mühe, sie zn halten; ihr ganzes Körperchen ist
Zittern und Jauchzen.
Das ist die erste Freude an den Dingen! Sie
hat im Bilde und in der Natur schon Schmetter-
linge gesehen; aber die sind verblichen und ver-
gangen wie tausend andere Eintagsfalter aus dem
Frühsommer der Kinderseele. Heut erst erfolgt die
formelle Vorstellung zwischen Schmetterling und
Appelschnnt- Das ist Freude! Das ist die Freude
an den Dingen, die noch nicht fragt, was sind
uns die Dinge und was sind wir den Dingen —
die in jeder Blume ein entdecktes Land sieht und
in jedem Steinchen ein persönliches Geschenk.
„Bitte bitte, süßer Pappa, laß den Schmecker-
ling mal reinkommen!" fleht die Kleine.
Vaterschaft verpflichtet. Ich mache mich also
mit großer Vorsicht daran, den „Frühling" ins
Zimmer zu schaffen, ohne daß ich seine Flügel be-
rühre, und cs gelingt. Jetzt sitzt er auf dem Tisch
unter dem Kreuzfeuer von sieben Augenpaaren.
„Hertha, Du muß nich so laut sprechen," flüstert
Appelschnnt, „das mag er nich hören."
Und jede leise Regung seiner Fühler und
Schwingen wird mit unterdrücktem Jubel begrüßt.
Dann aber geschieht etwas Großes, etwas unerhört
Großes. Der Falter hebt sich auf und setzt sich
auf Roswithas Arm.
Nun sitzt sie da, ein erstarrtes Freudebeben.
Sie rührt keine Muskel, nur ihre weit offenen
Augen gehen behutsam von einem zum andern.
Ihr Glück hat ans ihrem Gesichtchen nicht Platz
und strahlt weit darüber hinaus wie ein Glorien-
schein.
„Er mag mich leiden," spricht sie mit seligem
Stolz.,
Der Schmetterling hat — nach Art der Schmetter-
linge — die Dame seiner Wahl verlassen und ist
weil fortgeflogen, bis hoch oben auf das Gardinen-
brett. Er macht keine Miene, von dort zurück-
zukehren, und so erkalten allmählich auch Appcl-
schnuts Gefühle.
Da aus der Gewohnheit sich das Recht bildet,
so hat Appelschnnt das Recht erworben, mich nach
dem Essen schlafen zu legen. Sie bekommt bei
dieser Gelegenheit nicht selten ein Stück von der
Chokolade, die in einer Düte ans meinem Schreibtisch
liegt. Das Schlafenlegen geht so vor sich: ich
muß mich vor die Chaiselongue stellen; Appelschnnt
gibt mir einen Stoß, dann muß ich lang aufs
Ruhebett fallen und eine Minute lang schrecklich
mit den Beinen strampeln. Ich muß heut eine
besanders geniale Strampel- Intuition gehabt haben;
denn die ganze kleine Roswitha explodiert in ein
wahrhaft beseligendes Gelächter. Und wieder Hab
ich es ganz genau beobachtet, daß solch ein Kinder-
lachen unmittelbar ans dem Herzen hervorbricht.
Das Herz springt auf mit einem Knall wie eine
Knospe und schüttet siebentausend flügelschlagende
Engel aus.
Inzwischen befinden wir uns bereits bei Nr. 2
des Programms: Appelschnnt ist zu Pferde gestiegen.
Das Pferd bin ich. Die Aufgabe besteht nun
darin, die Litteratur der Reiterlieder zu durchhopsen,
z. B. „Hoppe Hoppe Reiter" und „Hopp hopp
Reiterlein" rc rc., eine väterliche Leistung, die nur
derjenige würdigen kann, der weiß, was Embon-
point heißt. Dabei gibt es Litteraturwerke, die
mindestens sechsmal wiederholt werden müssen, z. B.
Zuck zuck zuck noh Möhlen,
Roswitha sitt op't Fühlen,
Trudel op de bunte Koh
Un Rasmns op'n Swanz bitoo.
Rid wi all noh Möhlen.
„Goden Dag, Froo Möllerin,
Wo fett wi unsen Sack denn hin?"
„Buten op de Trepp,
Mang all de bunten Säck'.
Morgen geiht de Möhl;
Denn geiht se: Rumpumpel rumpumpel
rumpumpel rumpumpel."
(in inünituin.)
Plötzlich hält sie im Reiten inne, macht ein
tief nachdenkliches Gesicht und fragt: „Pappa, wie
heiß noch man das Lied von den Schwalben?"
Sie meint Chamissos Schwalbengedicht:
„Mutter, Mutter, unsre Schwalben,
Sieh doch, ljebe Mutter, sieh:
Junge haben sie bekommen,
Und die Alten füttern sie."
Sie gibt nicht eher Ruhe, bis ich ihr das ganze
Gedicht vorspreche. Und während ich spreche, muß
ich denken: Wer doch den Blick eines Kinderauges
beschreiben könnte, diese ruhig strahlende Blume,
die ahnungslos unter den überhangenden Felsen
des Schicksals blüht. Denselben Blick sah ich ein-
mal, als ich an einem trüben Ostertage durch die
traurigen Straßen einer Vorstadt schleuderte. Ein
kleiner Knabe ergriff mich beim Rock und sagte:
„Du, kuck mal, ich hab'n neue Mütze gekriegt!"
Er mußte sein Glück hinaussprechen, und er
vertraute es mir, dem völlig fremden Manne an.
Aus einem schmutzigen Gesichtchen lachten mich
zwei große Glaubenssterne an. Und der Ostertag
wurde licht und schön.
Wenn man nur ein einziges Mal so reden
oder schreiben könnte, daß die Worte mit solchen
Augen die Menschen ansähen... Dann könnte
man sich doch ruhig hinlegen und sterben.-
Als ich das Schwalbengedicht zn Ende gesprochen
habe, athmet sie tief auf und sagt:
„Das is zu hübsch! Das lern' ich mir, un
denn zieh ich einfach mein Mantel an un geh in
die Schule."
Kinder in diesem Alter haben bekanntlich ein
kaum zu zügelndes Verlangen nach der Schule —
sozusagen ein mathematischer Beweis für die Naivetät
dieser kleinen Wesen. Dabei hat sie offenbar die
Vorstellung, daß man in die Schule gehe, um da-
selbst zu Hause Gelerntes abzulagern. Sollte das
Kind eine Ahnung von unseren Gymnasien haben?