Nr. 10
JUGEND
1902
Ludwig Hohlwein (München)
Brunnenmasken
„Trudel, fühl' mal nach, ob meine Ohr'n noch
da sind!"
Trudel fühlte nach und stellte fest, daß beide
Ohren noch da seien. Und Appelschnut warf sich
befriedigt in's Kissen zurück, steckte den Daumen
in den Mund und entschlief sofort.
Ihr Traum ist Leben und ihr Leben Traum —
warum sollte solch ein Gcschöpfchen, das noch zwi-
schen Himmel und Erde schwebt und die Wirklich-
keit nur erst mit dem Saum seines Kleidchens be-
rührt, warum sollt' es die Welt eintheilen in Schlaf
und Wachen'?
Während des Auskleidens nehmen ihre Augen
schon den Ausdruck aus jener anderen, verschwie-
generen Welt des Traumes an....
Augen sind wie Wesen mit eigenem Leben,
sind beseelte, bewußte Wesen im Menschen. O vie-
les könnten sie berichten vom tiefe» Seelengrund,
wenn ihnen ein neidischer Gott nicht die Worte
versagt hätte. Und ist es nicht immer, als ob
Kinderaugen mit Worten reden wollten? Unsere
?lugen werden müder, je älter sie werden, und
geben endlich den Versuch zu reden ans.
„Mamma," ruft Appelschnut plötzlich, „die
Diebe sind doch ganz dunkel, nid)?"
„Warum meinst Du das?"
„Ach — ich meine — die sind doch ganz
dunkel, nich??"
„Nein, die Diebe sehen gerade so aus wie an-
dere Menschen."
Die Diebe spielen nämlich in Appelschnuts
Phantasie eine Rolle seit einer dunklen Nacht, in
der ein dunkler Ehrenmann ihr Kaninchen stahl.
Sie hatte sich so sehr ein lebendiges Thier gewünscht;
erst wollte sie mit einem richtigen Pferd spielen,
dann mit einer Ziege, und so wurde das Pferd
immer kleiner, bis es ein entzückend weißes Ka-
ninchen war. Appelschnut küßte und drückte es
mit Pfcrdcliebe und brachte ihm so viel Zärtlich-
keit entgegen, daß es selbst dem Karnickelchen zu
viel wurde; es sprang ihm mit einem jähen Ent-
schluß vom Arm; Appelschnut fiel ins Gras, und
das Nickelchen sprang über ihre Nase hinweg.
Appelschnut war ihm anderthalb Minuten lang
wirtlich böse; dann verzieh sic ihm, und so sprangen
die beiden zwei Tage lang durch den Sonnenschein.
Am Morgen des dritten aber war das Ställchen
leer, und Appelschnut hörte, daß ein Dieb das
Nickelchen weggenommen habe. Es zuckte bedenk-
lich um Appelschnuts Mäulchen — da sah sie im
Sande ihre kleine Gießkanne liegen.
„Oh Mamma," rief sic begeistert, „sieh mal: Der
süße Dieb hat meine Gießkanne nich weggenommenl"
Unter den Seligpreisungen der Bergpredigt fehlt
die eine: „Selig sind, die dankbaren Herzens sind.
Schon unter Menschen werden sie glücklich sein."
cagebuchblatt von fi. v. Cboreau
Nicht ein einziger wissenschaftlicher Kur-
druck, kein elnterlcheidungrmerkma! fuhrt im
geringsten zum Ziel. Du möchtest etwas be-
merken, muht also ckem (Gegenstand gänzlich
vorurtheiirlor gegeniibertreten. Du muht ein-
lehen, äah kein Ding dar ist, wofür Du er
gehalten hast. Zn welchem Duch ist die Welt
und ihre Schönheit beschrieben? Wer hat die
Stufen ersonnen, die zur Entdeckung der Schön-
heit führen? Du muht in einem andern als
dem gewöhnlichen Instand lein. Dein gröhter
Erfolg wird einfad) der sein, zu sehen, dah er
solche Dinge gibt, und Du wirst der Akademie
der Wissenschaften keine Mittheilungen zu machen
haben. Wenn er sich darum handelte, die Lage
der Samenhäufchen oder de» Charakter der
stnduriumr anzugeben, nichts leichter als dar.
Dun sollen aber diele Sarrenkräuter Eindruck
auf Dich machen, Dir etwas lein, Dir etwas
bedeuten, Dir eine neue heilige Schrift und
Offenbarung werden, die Dir hilft, Dein Leben
lorzukaulen, und dieser Ziel wird nicht so
leicht erreicht.
Gbeater
Vor den Dörfern ist die Scbauspielbübnc
Des F)errn Earimujji aufgescblagen.
Heb, ins Blumcnbunt und CCliescngrüne
J)at er Kunst und auch Cultur getragen.
Hn ein Dutzend Bäuerinnen sitzen,
friedlich gähnend, auf den barten Bänken.
Colombine singt, halb nackt vor Spitjen:
„Dir, Geliebter, will ich mich verschenken. "
Doch die Bauern haben schwere Stirnen,
Ob es morgen wieder regnen möchte ..
Leise kichern nur die Bauerndirnen,
Und es küssen sie die blonden Knechte
Bans müllcr
Die missverstandene Durchlaucht
Serenissimus hatte bei einer Truppenbesichtiguiig
den leutseligen Einfall, einige seiner Untertbane»
mit Ansprachen zu beehren. Unter anderem fragten
lzöchstderselbe den Gemeinen bzuber: „— Aeh
— äh, sagen Sie mal, mein Lieber, — äh, —
was ist Ihre Profession?" — puber: „Katholisch."
„— Aeh, habe ja gar nicht nach Eonfession ge
fragt. Sie, — äh, Sie, antworten Sie mir mal:
was ist Ihre Profession?" — Levy: „F ü n f
Prozent, Keenigliche lzohait."
Uom Untauglichen
Im 34. Bonde der Entscheidungen in Slrassachen
verficht das Reichsgericht seine Theorie von der Straf
barkeit des Versuchs mit untauglichen Mitteln und
sagt auf S. 218: „Sittliche Gründe, die dagegen
jpreckien, daß derjenige, der den Willen, ein Ver-
brechen zu begehen, durch Handlungen auszuführen
beginnt, die naä) seiner Ueberzeugung zur Vollendung
des Verbechens geeignet, in Wahrheit aber hierzu
ungeeignet sind, demjenigen rechtlich gleichzustellen
sei, dessen böse Absicht durch äußere Hindernisse per
eitelt wird, bestehen nicht." Nein, gewiß nicht; aber
das Reichsgericht hat etwas übersehen. Sprachliche
Gründe, die dagegen sprechen, daß derjenige, der de»
Willen, einen richtigen dcutsäien Satz zu schreiben,
durch Handlungen auszuführen beginnt, die naä>
seiner Ueberzeugung zur Vollendung dieser Absicht
geeignet, in Wahrheit aber hierzu ungeeignet sind,
demjenigen rechtlich gleichzustellen sei, dessen böse
Absichten gegen die deutsche Sprache durch Mangel-
haste Schulbildung hervorgerufen sind, bestehen nicht.
Deßhalb sollte für die Strafsenate des Reichsgerichts
ein scharfes Fernrohr angeschasft werden, damit man
von dem Subjelt der Rechtssätze des Reichsgerichts
aus das Prädikat noch erkennen kann. Frid«
Mahres Geschichtchen
Pfarrer und Lehrer sitzen in eifriger Unter
Haltung am Biertisch zusammen. Der Pfarrer ist
im Begriffe, sich eine frische Ligarre anzustecken.
Schnell entzündet der aufmerksame Lehrer ein Zünd
Holz und will es seinem geschätzten Nachbar über
reichen. In demselben Augenblicke verlöscht das
Zündholz.
Pfarrer: Sehen Sie, mein lieber Berr Lehrer,
das Licht der Schule verlöscht!
Lehrer: Sehr richtig, — sobald es die Kirche
in die kjand nimmt.
Kur dem
Slammbucbe einer is läbrigen Schülerin:
Mit den Herrn fang alles an!
Zur Erinnerung
an Deine Freundin E. S.
156
JUGEND
1902
Ludwig Hohlwein (München)
Brunnenmasken
„Trudel, fühl' mal nach, ob meine Ohr'n noch
da sind!"
Trudel fühlte nach und stellte fest, daß beide
Ohren noch da seien. Und Appelschnut warf sich
befriedigt in's Kissen zurück, steckte den Daumen
in den Mund und entschlief sofort.
Ihr Traum ist Leben und ihr Leben Traum —
warum sollte solch ein Gcschöpfchen, das noch zwi-
schen Himmel und Erde schwebt und die Wirklich-
keit nur erst mit dem Saum seines Kleidchens be-
rührt, warum sollt' es die Welt eintheilen in Schlaf
und Wachen'?
Während des Auskleidens nehmen ihre Augen
schon den Ausdruck aus jener anderen, verschwie-
generen Welt des Traumes an....
Augen sind wie Wesen mit eigenem Leben,
sind beseelte, bewußte Wesen im Menschen. O vie-
les könnten sie berichten vom tiefe» Seelengrund,
wenn ihnen ein neidischer Gott nicht die Worte
versagt hätte. Und ist es nicht immer, als ob
Kinderaugen mit Worten reden wollten? Unsere
?lugen werden müder, je älter sie werden, und
geben endlich den Versuch zu reden ans.
„Mamma," ruft Appelschnut plötzlich, „die
Diebe sind doch ganz dunkel, nid)?"
„Warum meinst Du das?"
„Ach — ich meine — die sind doch ganz
dunkel, nich??"
„Nein, die Diebe sehen gerade so aus wie an-
dere Menschen."
Die Diebe spielen nämlich in Appelschnuts
Phantasie eine Rolle seit einer dunklen Nacht, in
der ein dunkler Ehrenmann ihr Kaninchen stahl.
Sie hatte sich so sehr ein lebendiges Thier gewünscht;
erst wollte sie mit einem richtigen Pferd spielen,
dann mit einer Ziege, und so wurde das Pferd
immer kleiner, bis es ein entzückend weißes Ka-
ninchen war. Appelschnut küßte und drückte es
mit Pfcrdcliebe und brachte ihm so viel Zärtlich-
keit entgegen, daß es selbst dem Karnickelchen zu
viel wurde; es sprang ihm mit einem jähen Ent-
schluß vom Arm; Appelschnut fiel ins Gras, und
das Nickelchen sprang über ihre Nase hinweg.
Appelschnut war ihm anderthalb Minuten lang
wirtlich böse; dann verzieh sic ihm, und so sprangen
die beiden zwei Tage lang durch den Sonnenschein.
Am Morgen des dritten aber war das Ställchen
leer, und Appelschnut hörte, daß ein Dieb das
Nickelchen weggenommen habe. Es zuckte bedenk-
lich um Appelschnuts Mäulchen — da sah sie im
Sande ihre kleine Gießkanne liegen.
„Oh Mamma," rief sic begeistert, „sieh mal: Der
süße Dieb hat meine Gießkanne nich weggenommenl"
Unter den Seligpreisungen der Bergpredigt fehlt
die eine: „Selig sind, die dankbaren Herzens sind.
Schon unter Menschen werden sie glücklich sein."
cagebuchblatt von fi. v. Cboreau
Nicht ein einziger wissenschaftlicher Kur-
druck, kein elnterlcheidungrmerkma! fuhrt im
geringsten zum Ziel. Du möchtest etwas be-
merken, muht also ckem (Gegenstand gänzlich
vorurtheiirlor gegeniibertreten. Du muht ein-
lehen, äah kein Ding dar ist, wofür Du er
gehalten hast. Zn welchem Duch ist die Welt
und ihre Schönheit beschrieben? Wer hat die
Stufen ersonnen, die zur Entdeckung der Schön-
heit führen? Du muht in einem andern als
dem gewöhnlichen Instand lein. Dein gröhter
Erfolg wird einfad) der sein, zu sehen, dah er
solche Dinge gibt, und Du wirst der Akademie
der Wissenschaften keine Mittheilungen zu machen
haben. Wenn er sich darum handelte, die Lage
der Samenhäufchen oder de» Charakter der
stnduriumr anzugeben, nichts leichter als dar.
Dun sollen aber diele Sarrenkräuter Eindruck
auf Dich machen, Dir etwas lein, Dir etwas
bedeuten, Dir eine neue heilige Schrift und
Offenbarung werden, die Dir hilft, Dein Leben
lorzukaulen, und dieser Ziel wird nicht so
leicht erreicht.
Gbeater
Vor den Dörfern ist die Scbauspielbübnc
Des F)errn Earimujji aufgescblagen.
Heb, ins Blumcnbunt und CCliescngrüne
J)at er Kunst und auch Cultur getragen.
Hn ein Dutzend Bäuerinnen sitzen,
friedlich gähnend, auf den barten Bänken.
Colombine singt, halb nackt vor Spitjen:
„Dir, Geliebter, will ich mich verschenken. "
Doch die Bauern haben schwere Stirnen,
Ob es morgen wieder regnen möchte ..
Leise kichern nur die Bauerndirnen,
Und es küssen sie die blonden Knechte
Bans müllcr
Die missverstandene Durchlaucht
Serenissimus hatte bei einer Truppenbesichtiguiig
den leutseligen Einfall, einige seiner Untertbane»
mit Ansprachen zu beehren. Unter anderem fragten
lzöchstderselbe den Gemeinen bzuber: „— Aeh
— äh, sagen Sie mal, mein Lieber, — äh, —
was ist Ihre Profession?" — puber: „Katholisch."
„— Aeh, habe ja gar nicht nach Eonfession ge
fragt. Sie, — äh, Sie, antworten Sie mir mal:
was ist Ihre Profession?" — Levy: „F ü n f
Prozent, Keenigliche lzohait."
Uom Untauglichen
Im 34. Bonde der Entscheidungen in Slrassachen
verficht das Reichsgericht seine Theorie von der Straf
barkeit des Versuchs mit untauglichen Mitteln und
sagt auf S. 218: „Sittliche Gründe, die dagegen
jpreckien, daß derjenige, der den Willen, ein Ver-
brechen zu begehen, durch Handlungen auszuführen
beginnt, die naä) seiner Ueberzeugung zur Vollendung
des Verbechens geeignet, in Wahrheit aber hierzu
ungeeignet sind, demjenigen rechtlich gleichzustellen
sei, dessen böse Absicht durch äußere Hindernisse per
eitelt wird, bestehen nicht." Nein, gewiß nicht; aber
das Reichsgericht hat etwas übersehen. Sprachliche
Gründe, die dagegen sprechen, daß derjenige, der de»
Willen, einen richtigen dcutsäien Satz zu schreiben,
durch Handlungen auszuführen beginnt, die naä>
seiner Ueberzeugung zur Vollendung dieser Absicht
geeignet, in Wahrheit aber hierzu ungeeignet sind,
demjenigen rechtlich gleichzustellen sei, dessen böse
Absichten gegen die deutsche Sprache durch Mangel-
haste Schulbildung hervorgerufen sind, bestehen nicht.
Deßhalb sollte für die Strafsenate des Reichsgerichts
ein scharfes Fernrohr angeschasft werden, damit man
von dem Subjelt der Rechtssätze des Reichsgerichts
aus das Prädikat noch erkennen kann. Frid«
Mahres Geschichtchen
Pfarrer und Lehrer sitzen in eifriger Unter
Haltung am Biertisch zusammen. Der Pfarrer ist
im Begriffe, sich eine frische Ligarre anzustecken.
Schnell entzündet der aufmerksame Lehrer ein Zünd
Holz und will es seinem geschätzten Nachbar über
reichen. In demselben Augenblicke verlöscht das
Zündholz.
Pfarrer: Sehen Sie, mein lieber Berr Lehrer,
das Licht der Schule verlöscht!
Lehrer: Sehr richtig, — sobald es die Kirche
in die kjand nimmt.
Kur dem
Slammbucbe einer is läbrigen Schülerin:
Mit den Herrn fang alles an!
Zur Erinnerung
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Henry David Thoreau: Tagebuchblatt
Hans Müller: Theater
Ludwig Hohlwein: Brunnenmasken
Fritz Erler: Vignette
[nicht signierter Beitrag]: Die missverstandene Durchlaucht
Frido: Vom Untauglichen
[nicht signierter Beitrag]: Wahres Geschichtchen
[nicht signierter Beitrag]: Aus dem Stammbuch einer 10jährigen Schülerin
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