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1902

. JUGEND -

/ß'in warmer Juli-Abend. Die Sec nur leicht bc-
V£: uiegt. Es nebelt. Und durch den weißlichen
Dunst kommt, immer in Pausen von zwei Minute»,
das tiese, dröhnende, warnende Pfu-u-u-h! des Nebel-
horns einestransatlantischenDamPfers. Jetzt werden
seine Umrisse verschwommen sichtbar, schwarz und ge-
waltig. Es ist einer der Ocean-Riesen. Dunkle Rauch-
wolken qualmen aus den Schornsteinen. Majestätisch
lauscht er daher mit achtzehn Knoten die Stunde
verminderte Geschwindigkeit. Des Nebels wegen. Um
den messerscharscn Bug sprudelt und wogt und spritzt
es wie Seisenschaum. Hinter sich her läßt er eine
lange Straße von Schaum. Aber im Nebel ist sie
"icht zu erkennen. Alle elektrischen Lichter brennen:
das Licht hoch oben am ersten Mast, dem Fockmast,
das Licht hoch oben am zweiten Mast, dem Groß-
wast, das rothe Licht auf Steuerbord rechts unter
der Kapitäns-Brücke, das grüne Licht auf Backbord
links unter der Kapitäns-Brücke. " Sämmtliche Ka-
lüten-Fenster sind erleuchtet und sämmtliche Fenster
des Speisesaals. Denn es ist die Zeit des Diners.
Im Speisesaal, grün und gold, Jugendstil, tragen
die Stewards in den dunkelblauen Unisormen mit
den gelben Messing-Knöpfen grade den Kaffee auf.
Das Streichorchester der Musik-Stewards oben im
Damen-Salon spielt das letzte Stück der Tafelmusik:
La Paloma. Sehnsüchtig feurig klingt es von der
weiten Ocssnung über dem Speisesaal herunter. Schöne
Damen an den glitzernden, schneeigen Tafeln wiegen
die Kopfe und lächeln, wie die schönen Damen lächeln,
wenn die Musik von Liebe seufzt. Psu-n-n-h! dröhnt
das Nebelhorn zornig mitten in die Musik und das
Geplauder hinein.

„Das verwünschte Nebelhorn!" sagt der dicke Bcr-
uner zu der kleinen Soubrette neben ihm, die nach
New-York verpflichtet ist. „Es macht Einen janz
nervös."

„Ach, mich läßt's kalt!" meint sie mit gespielter
Gleichgiltigkeit und nascht von dein Gefrorenen.

. „A'a ja! wenn man solche Portion Eis zu sich
nimmt!" witzelt der dicke Berliner und langt sich
e>ne Knackmandel. Nach und nach leert sich der Saal.
Einige bleiben zurück, setzen sich um das Piano herum,
wo der freundliche Wiener mit dem lächerlichen schwar-
zen Schnurrbärtchen ein Lied von Lassen singt, mit
gequetschtem Tenor, komisch gräßlich. In einer Ecke,
Abgesondert, sitzt die reizende junge Polin und der
Dichter aus Frankfurt an der Oder. Der Dichter
>>alt ein iveißes Blatt Papier in der Rechten und liest:
Ach durch meine dunkle Gasse
Mit den kalten, grauen Steinen
Und dem kalten, grauen Schnee
Kam die süßeste der Kleinen,

Klärchen, meine holde Fee.

Hat zu mir hinaufgelächelt,

Zu den alten, blinden Scheiben,

Wo ich stand, das Herz voll Weh-

Dann verschwand im Straßentreiben
Klärchen, meine holde Fee.

-puuu imi/u

„Es klingt wie einet) Berrspottung, nicht warr?"
sagte sie. „Aberr bitteh — holen» Sie mirr doch
eine Tasse Thee, ehe Sie weiterr lesenn."

Der Dichter verschlvindet. Im Rauchsalon schlägt
der deutsche Brauer aus Mexiko auf beit Tisch und
mummelt, mit der schlechten Cigarre im linken Mund-
winkel :

„Immer rin, was Beene hat!"

„Uas meint DaS?" fragt der neugierige Yankee,
bekommt es von seinem skatkundigen Nachbarn er-
klärt und sagt: „All-I seel Awful funny!“

Nicht weit davon sitzt der übliche Ocean-Renommist
und verkündet einem Kreise von aushorchenden Occan-
Grünlingen:

„Eisberge? Lächerlich! Lassen Sie sich doch keinen
Eisberg ausbinden. Das ist nun meine zwölfte Reise
und ich habe noch nie einen gesehen. Und Ivenn
einer kommt, fahren wir drum rum. Sehr einfach."
Pfu-u-u-h! dröhnt das Nebelhorn. Und immer rauscht
der Ocean-Riese durch Nebel und Wogen dahin. Nie-
mand ist auf Deck. Es ist zu wenig angenehm dort.
Auch naht die Zeit zum Schlafen. Einsam wird es
auf dem Dampfer, immer einsamer. 9iur aus der
Kapitäns-Brücke, die in der Höhe vor den Schorn-
steinen quer über das Schiff läuft, ist es lebendig.
Dort geht hinter der Brustwehr der Kapitän und
der erste Officier von Steuerbord nach Backbord un-
ablässig aus und ab. In der Ecke an Steuerbord
steht der dritte Officier, in der Ecke an Backbord der
vierte und spähen durch die Gläser in daS neblige
Dunkel. Jnr Steuerhaus in der Mitte der Brücke
steht der Quartermeister am Steuerrad, blickt un-
verwandt auf de» Kompaß vor sich und dreht un-
ausgesetzt am Steuerrad, um den Dampfer im KurS
zu halten. Born am Bug steht der zweite Quarter-
meister und späht unablässig in das neblige Dunkel.
Oben im „Auskiek" am Fockmast steht die Wache und
späht unablässig in das neblige Dunkel, iknten im
Maschinenraum weisen die Zeiger auf den beiden
Telegraphen-Apparaten, die mit den Telegraphen-
Apparaten auf der Brücke in Verbindung stehen, auf
„Achtung." Des Nebels wegen. Mehrere Maschi-
nisten befinden sich daher in unmittelbarer Nähe der
Apparate bei der Umsteuerungs-Maschine, welche die
gewaltige Maschinerie beherrscht. Alle Vorsichtsmaß-
regeln für Nebelivetter sind also aufs Peinlichste be-
obachtet. Man hört Nichts als das dumpfe gleich-
mäßige Stampfen der Maschinen, das Rauschen und
Zischen der Wogen, die der Dampfer durchschneidet,
das dröhnende Nebelhorn. Von irgendwo tönt ein
silbernes weibliches Lachen. Plötzlich bleibt der Ka-
pitän stehen und sagt zum ersten Ossieier:

„Jansen, wird cs kühler, oder ist mir nur so?"
Jansen sieht sich um, als ob man Kälte sehen könnte,
und erwidert:

„Mir ist auch, als würde es kühler!" Von Steuer-
bord her bemerkt der dritte Officier:

„ES ivird auffallend kühler!" Jansen wirst seinen
prüfendenBlick auf das Thermometer am Steuerhaus:

„Das Thermometer fällt rapide!" Der Kapitän
tritt neben ihn, der dritte Officier ebensalls. Alle
drei blicken auf das Thermometer.

„Es ist schon um sechs Grad gefallen!" sagt Jansen.

„Zum Teufel!" meint der Kapitän. „Das kann
nur ein Eisberg sein! Sehen Sie Nichts, Karsten?"
Karsten, der dritte Officier, sucht schon wieder nach
Norden im Nebel herum.

„Ich sehe Nichts!" Von Norden trieben um diese
Zeit die Eisberge südwärts.

„Rufen Sie den Mann im Auskiek an!" Karsten
greift zum Sprachrohr und ruft den Manu im Aus-
kiek an. Durch das Sprachrohr kommt vom Auskiek
die Meldung zurück, er sähe Nichts.

„Das Thermometer steht drei Grad über Null!"
meldet Karsten. Alle Gläser sind von der Brücke
nach Norden gerichtet. Pfu-u-u-h! warnt das Nebel-
horn weit hin durch den Nebel. Und als ob es sich
über die Warnung lustig machen wollte, taucht jetzt
ein erschreckendes gigantisches Ungeheuer aus dem
Nebel auf. Von Norden her vor dem Bug treibt
es auf den Dampfer zu, lautlos, unaufhaltsam, ge-
spensterhaft weiß, die erstarrende, eisige Kälte des
Todes ausathmend. An 600 Fuß ragt es aus dem
Wasser, breit und massig zugleich, wohl noch zu sieben
Achtel, wie gewöhnlich, unter dem Wasser sich er-
streckend. Vorn dicht über dem Wasser zeigt es eine
riesige Aushöhlung. Der Theil oberhalb hängt in
gewaltiger Spitze weit vornüber, grade in SchissS-
höhe. Wenn diese Spitze den Dampfer trifft, drückt
sie ihn unter Wasser wie einen Papierkahn, den die
Kinder auf der Waschschüssel fahre» lassen. Dann
ist Alles vorbei. In wenigen Sekunden. Und 2360
Seelen an Bord, mit der Mannschaft!

„Eisberg Steuerbord!" kommt die Stimme der
Wache durch das Sprachrohr vom Au-kick. Die
Stimme hat etwas Uebermenschliches, Geisterhaftes.
An ausweichen, das sieht der Kapitän, ist nicht mehr
zu denken. Bereits ist er am nächsten Telegraphen
APParat. Herum fliegt der Hebel, der Zeiger weist
auf „Volle Kraft rückwärts." Unten im Maschincn-
raum rasseln die elektrischen Klingeln in den beiden
Telegraphen-Apparaten, ihre Zeiger fliegen auf „Volle
Kraft rückwärts." Der nächste Maschinist stürzt her-
bei, liest das Kommando, telegraphirt zur Bestäti-
gung nach der Brücke zurück, wo in den Telegraphen-
Apparaten die elektrischen Klingeln rasseln. Dann
wirft er den Hebel an der Umsteuerungs-Maschine
herum, sausend und brausend drehen sich die ge-
waltigen Schrauben in derentgegengesetztcnRichtung,
ein leichtes Zittern läuft durch den riesigen Schiffs-
körper. Blaß und regungslos stehen die Maschinisten.
Was ist geschehen? Was wird geschehen? Wann
kommt der betäubende Krach? Wann bricht die salzige
Fluth tosend in den Maschinenraum, jeden Ausweg
für die Maschinisten unter der Wasserlinie abschuei-
dend? Auch oben auf der Brücke stehen sie blaß und
regungslos, wie wenn die Eiskälte, die von dem Ge-
spenst da vor ihnen ausströmt, sie allesammt zu

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Register
Henry F. Urban: Der Eisberg
Paul Haustein: Titelornament zum Text "Der Eisberg"
 
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